Kapitel 1 – Ein Echo von Abenteuer (Auszug)

Tell me do you remember
The games and the laughter
Far from the choices we’d have to make
A kiss on the lips
Turned the toad to a prince
And the end was a lifetime away

(End Of Innocence, Star, Haven)

In seinem gesamten Leben hatte Akkarin sich noch nie so sehr gelangweilt. Nicht einmal der Unterricht in Heilkunst, den die strenge Lady Vinara ihm einst erteilt hatte, war so uninteressant gewesen. Selbst Alchemie hatte er mehr gemocht, wenn auch er Lord Margen gehasst hatte. Inzwischen war die eine das Oberhaupt der Heiler und der andere als sein Gegenkandidat aus der Wahl zum Hohen Lord ausgeschieden. Doch eines hatten sie beide gemeinsam.

Beide mussten nun ihm gehorchen.

Ah, wenn mich das doch für diese langwierigen Diskussionen der Magier entschädigen würde!

Doch nicht einmal seine Befehlsgewalt konnte die Diskussionen frühzeitig beenden oder abschaffen.

Sich ein wenig in seinem Sitz an der Spitze der Empore aufrichtend ließ Akkarin seinen Blick durch die Gildehalle schweifen. Die Reihen der Magier waren nur mäßig gefüllt. Außer zu wichtigen Themen kamen nur diejenigen zu einer Gildenversammlung, die sich für die Punkte auf der Tagesordnung interessierten. In einer Gruppe Heiler saß sein Freund Lorlen. Als ihre Blicke einander begegneten, schenkte er Akkarin ein gequältes Lächeln.

Er ist nur hier, weil ihn sein Pflichtbewusstsein dazu zwingt, erkannte Akkarin. Das war typisch für Lorlen. Immer korrekt und regelkonform, als könne er damit kompensieren, was er als Novize angestellt hatte. Doch im Gegensatz zu Akkarin gab er das nicht nur vor. Er lebte es.

Manchmal musste man die Regeln jedoch biegen, wusste Akkarin. Und in manchen Situationen heiligte der Zweck die Mittel. So auch, als Akkarin entschieden hatte, gegen seinen Eid zu verstoßen und schwarze Magie zu erlernen. Er hatte nicht damit gerechnet, lange genug zu überleben, um sich dafür verantworten zu müssen. Es war ihm nur um Rache gegangen. Rache für fünf Jahre Gewalt und Unterdrückung. Und für Isara.

Nach seiner Rückkehr hatte er es nicht über sich bringen können, der Gilde sein Vergehen zu gestehen. Er bezweifelte, dass er der Hinrichtung entkommen wäre, hätte er ihnen die ganze Geschichte erzählt. Das war die damit verbundene Scham nicht wert. Allein deswegen war es ein Fehler gewesen, die Wahl zum Hohen Lord anzunehmen. Aber Akkarin war nicht so naiv zu glauben, dass Kariko nicht auf Rache für den Tod seines Bruders sinnen würde. In seiner jetzigen Position hatte er bessere Möglichkeiten, die Gilde vor dem Fehler seines Lebens zu schützen, denn als einfacher Gildenmagier.

Und deswegen hatte er auch mit dem Schwur, den er sich bei seiner Rückkehr gegeben hatte, gebrochen und praktizierte weiterhin schwarze Magie.

Durch Eure Prüfung habt Ihr einen großen Teil der Magie, die Ihr Meister Dakova genommen habt, verloren, hatte Takan mit seiner beharrlichen Sturheit gesagt, kaum dass Akkarin die Residenz bezogen hatte. Durch den täglichen Gebrauch verliert Ihr weitere Magie, bis Ihr irgendwann nur noch Eure normale Stärke besitzt. Falls Kariko angreift, solltet Ihr vorbereitet sein.

Widerwillig und nur nach einer hitzigen Diskussion hatte Akkarin seinem einstigen Leidensgenossen nachgegeben. Dafür sprach auch, dass die Magier sich wundern würden, wohin die Stärke, die er gegen Balkans Krieger in der Arena gezeigt hatte, verschwunden war. Seit jenem Streit stärkte er sich jeden Tag an seinem Diener, jedoch nicht über das Maß hinaus, mit dem er im Sommer in die Gilde zurückgekehrt war.

Insgeheim hoffte er, es würde niemals dazu kommen, dass er wieder mit schwarzer Magie töten musste.

Oberhaupt der Gilde zu sein, erwies sich als zusehends langweiliger, als er geglaubt hatte. Und seine Aufgaben ließen ihm mehr Freizeit, als ihm lieb war.

Seine Müdigkeit mit ein wenig Magie vertreibend versuchte Akkarin, Aufmerksamkeit zu heucheln. Er hatte die halbe Nacht Bücher in Kisten gepackt, in der Hoffnung, müde zu werden und seinen unterbrochenen Schlaf ohne weitere unerfreuliche Träume fortsetzen zu können. Dann hatte er Lord Lorens Brief in dieser Chronik gefunden und anschließend war an Schlaf nicht mehr zu denken gewesen. Als Takan mit dem Frühstück gekommen war, hatte Akkarin vorgegeben, früh aufgestanden zu sein. Genau genommen war das nicht einmal eine Lüge.

Auch jetzt war es leichter, über den Inhalt des Briefes und die Bedeutung dessen nachzudenken, als der Diskussion zu lauschen. Und es war alle Mal besser, als an seinen Traum zu denken.

Und an Isara.

Was auch immer Lord Loren sich bei diesem Brief gedacht hat, es ist ergibt keinen Sinn, dachte Akkarin nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Hätte er nicht geahnt, dass der Mann, der einst das Universitätsgebäude konstruiert hatte, von schwarzer Magie sprach, so hätte er die Zeilen für einen schlechten Scherz gehalten.

Entweder ich komme nicht auf die Lösung, weil ich übernächtigt bin, oder die Anweisungen sind unvollständig. Letzteres würde jedoch bedeuteten, dass in den Büchern weitere solcher Nachrichten versteckt waren. Aber hätte Lord Loren dies dann nicht in diesem Brief angedeutet?

„Lord Davin, was genau erhofft Ihr Euch von dieser Wetterforschung?“, riss ihr eine irritierte Stimme zwei Reihen unter ihm aus seinen Gedanken. „Mir erschließt sich nicht, wie ein derart nicht deterministisches Phänomen, wie das Wetter, eine Frage der Alchemie sein soll. Für mich klingt das vielmehr nach einer Verschwendung von Forschungsgeldern.“

„Ich vertrete die Theorie, dass das Wetter sogar hoch deterministisch ist, Lord Peakin“, antwortete der Alchemist, der vor der Empore stand. „Es folgt jedoch einem sehr komplizierten Muster, das es zu entschlüsseln gilt, damit zuverlässige Vorhersagen überhaupt möglich sind.“

Obwohl Akkarin von seinem Sitz aus nur den Hinterkopf des Leiters der alchemistischen Studien sehen konnte, konnte er sich bildhaft vorstellen, wie dieser die Augen verdrehte. „Dann beweist dies und tragt Euren Antrag anschließend erneut vor.“

Unsensibel und nicht aufgeschlossen, dachte Akkarin, während Davin mit hängenden Schultern zurück zu seinem Platz schritt. Es war typisch für Peakin sich gegenüber neuen und vielversprechenden Ideen zu versperren. Er hatte jedoch auch ein Argument: Die Gilde sollte ihre Gelder nicht in eine Forschung, deren Sinnhaftigkeit ungewiss, wenn schon nicht zwingend notwendig, war, investieren.

Akkarin wäre nicht zu der Gildenversammlung gekommen, hätte er sich nicht aus seinem eigenen Haus vertrieben gefühlt. Seit Wochen wimmelte es in der Residenz tagsüber von Arbeitern und zwei auf Architektur spezialisierten Alchemisten, die mit beeindruckender Unterwürfigkeit damit beschäftigt waren, seine Renovierungswünsche in die Tat umzusetzen.

Da war ihm die Gildenversammlung als willkommene Abwechslung erschienen. Bis jetzt waren außer den drögen Berichten des Rektors, der Studienleiter und der Oberhäupter der Disziplinen jedoch nur Belanglosigkeiten diskutiert worden.

Waren die wenigen Gildenversammlungen, an denen er kurz nach seinem Abschluss teilgenommen hatte, wirklich interessanter gewesen? Oder war ihm das nur so vorgekommen, weil er damals noch nicht gewusst hatte, was er heute wusste?

„Gibt es weitere Anliegen?“, fragte Administrator Darrelan auf dem Sitz unter ihm.

Als sich niemand zu Wort meldete, schlug er auf einen kleinen Gong. „Damit erkläre ich die heutige Versammlung für beendet.“ Akkarin glaubte, Erleichterung aus seiner Stimme zu hören. „Ich wünsche allen ein angenehmes Wochenende.“

Roben raschelten, als mehrere Dutzend Magier sich von ihren Sitzen erhoben, das Tappen ihrer Stiefel erfüllte die Halle, als sie durch die großen Doppeltüren nach draußen strömten. Auch Akkarin erhob sich und stieg die Empore hinab und beeilte sich, die Gildehalle zu verlassen.

„Hoher Lord!“

Akkarin fuhr herum, als er die vertraute Stimme erkannte. Lorlen hatte sich aus der Gruppe der Heiler gelöst und hielt auf ihn zu.

„Lord Lorlen“, sagte Akkarin, sich ein unwillkürliches Lächeln ob der Förmlichkeit verkneifend. „Was kann ich für Euch tun?“

Sein Freund widerstand nur knapp dem Drang, die Augen zu verdrehen. „Sehen wir uns nachher im Abendsaal?“, fragte er. „Oder musst du wieder in den Palast?“

„Heute nicht.“ Akkarin verspürte keinen Drang, in den Abendsaal zu gehen und sich erneut unter all diese Magier mit ihren belanglosen Sorgen und Ängsten zu mischen, die in ihrer beschaulichen Welt für sie dringlich waren. Ohne Einladung des Königs gingen ihm jedoch die Ausreden aus, zumal Lorlen wusste, dass er sich in seinen eigenen Räumlichkeiten im Augenblick nicht heimisch fühlte.

Die Enttäuschung in den Augen seines Freundes bemerkend, ahnte Akkarin, es war an der Zeit nachzugeben. In den letzten Wochen hatte er zu oft abgelehnt. „Ich komme später nach“, sagte er daher.

„Ich freue mich darauf“, erwiderte Lorlen.

„Wir sehen uns dann“, sagte Akkarin. „Doch nun entschuldige mich. Ich muss nachsehen, was Tekin und Celano mit meiner Residenz angestellt haben.“

Lorlen lächelte wissend. „Dann solltest du das besser tun. Bis später.“

Sich die Erwiderung sparend, verließ Akkarin die Gildehalle. Nur wenige Magier begegneten ihm auf dem Weg nach draußen und die Novizen hatten erfreulicherweise gerade Unterricht.

Einen tiefen Atemzug nehmend trat Akkarin durch das Eingangsportal der Universität und schritt die Stufen hinab. Nach der stickigen Luft in der Gildehalle hieß er die spätherbstliche Kälte, die sich mit ihren klammen Fingern durch seine Roben bis auf seine Haut vorarbeitete, willkommen. Das triste Grau des Nachmittagshimmels verhieß eine vorzeitige Dämmerung und vermischte sich mit seiner Melancholie, bis das Gefühl in jede Faser seines Körpers ausfüllte und in Harmonie mit seiner Stimmung schwang.

Irgendwie hatte er diese wolkenverhangenen Tage zu mögen begonnen. Denn auch für ihn würde niemals wieder eine Sonne scheinen.

Lord Tekin und Lord Celano erwarteten ihn in der frisch umgebauten Empfangshalle seiner Residenz. Wo am Morgen noch Chaos geherrscht hatte, fand Akkarin sich nun in einem kleinen und beschaulichen Raum wieder, der eher zu einem gemütlichen Beisammensitzen, denn zu einer großen Partygesellschaft einlud. Es hieß, die früheren Oberhäupter der Gilde hatten hier um ihre Gäste zu unterhalten zu besonderen Anlässen teils ausschweifende Feste gefeiert. Die frei im Raum schwebenden Treppen waren nun hinter Türen verborgen und jenseits der Empfangshalle befand sich jetzt ein Wohnzimmer, das Akkarin so zu gestalten gedachte, dass es ebenfalls nicht zum Feiern einlud.

„Eure Bibliothek ist nun bereit, eingerichtet zu werden“, teilte Lord Tekin ihm mit. „Die Regale wurden vor zwei Stunden geliefert und werden gerade aufgebaut.“

„Ich danke Euch, Lord Tekin“, erwiderte Akkarin. „Wann könnt Ihr mit dem Umbau der übrigen Räume im Erdgeschoss beginnen?“

„In der kommenden Woche.“ Lord Tekin zögerte. „Wünscht Ihr, dass wir Euch Eure neue Bibliothek zeigen?“

„Nein, danke.“ Akkarin nickte den beiden Alchemisten zu. „Einen guten Tag noch, Lord Tekin und Lord Celano.“

Nachdem Akkarin seine neue Bibliothek inspiziert hatte, stieg er hinab in den Kellerraum. Die Aufschriften auf den Kisten lesend, wählte er zwei Stück aus, hob er sie mit Magie empor und levitierte sie über zwei Stockwerke zu ihrem neuen Bestimmungsort, wo der Schreinermeister der Gilde mit seinen Gehilfen gerade das letzte Regal aufbaute.

In der alten Bibliothek, die im Keller und viel zu klein für den Bestand seines Vorgängers gewesen war, hatten die Bücher in Zweier- und Dreierreihen in den Regalen gestanden. Bei seiner Planung hatte Akkarin das mit einbezogen und vorab festgelegt, wie die Bücher künftig einsortiert werden sollten. Zu diesem Zweck hatte er drei Gästezimmer zu einem Raum umkonstruieren lassen. Das vierte Gästezimmer war einem großzügigen Speisezimmer zum Opfer gefallen, während Akkarin das Schlafzimmer und das Zimmer für Novizen nur in seiner Einrichtung hatte erneuern lassen.

Einen Novizen, den ich niemals erwählen werde, dachte er. Dass der Hohe Lord die Ausbildung eines Novizen überwachte, galt als große Ehre. Mit dem Sonderstatus des Novizen waren jedoch auch hohe Erwartungen verknüpft. Nicht wenige Novizen träumten dennoch davon, dass das Oberhaupt der Gilde sie wählte. So auch Akkarin einst.

Die Vorstellung, sich selbst eines Novizen anzunehmen, war indes reichlich absurd. Akkarin wollte nichts, als in Frieden hier leben. Und dabei konnte er keinen neugierigen Halbwüchsigen brauchen, der in seinen Angelegenheiten schnüffelte.

Die Männer am anderen Ende des Raumes nach Möglichkeit ignorierend tauchte Akkarin zwischen zwei Regalen ein, wo er die Kisten abstellte. Dann ließ er die Bücher aus den Kisten schweben, durchsuchte sie nach versteckten Nachrichten und sortierte sie in das Regal, das er für die Chroniken der Gilde vorgesehen hatte.

Doch so sehr er auch suchte, er fand weder einen zweiten Brief noch andere verstecke Informationen, die ihm mit seinem Fund in der vergangenen Nacht weiterhalfen.