Kapitel 41 – Jenseits seiner Kontrolle (Auszug)

Mirror mirror in the dark
Tell us what we are looking for
Make us see the truth
Liar liar on the wall

(Liar Liar (Wasteland Monarchy), Haven)

Die orange Scheibe der Sonne schob sich über den Horizont und tauchte erst die Kuppeln und Türme der Stadt und dann das Gelände der Universität in das fahle Licht eines Wintermorgens. Ihre Strahlen ließen den Frost auf den Dächern und dem mit welkem Laub bedeckten Rasen vor Akkarins Fenster glitzern. Obwohl es im Winter später hell wurde, war er für seine Verhältnisse früh aufgestanden.

Die Reduzierung seiner nächtlichen Aktivitäten sorgte dafür, dass er an den freien Abenden zu Bett ging, sobald er müde wurde. Nichtsdestotrotz waren seine Nächte oft kurz, so als würde irgendein innerer Widerstand ihn daran hindern, sich ganz auf den Schlaf einzulassen aus Furcht, wieder von Sachaka und von Isara zu träumen. Die Träume blieben jedoch aus, wenn er völlig übermüdet einen halben Tag verschlief oder wenn seine Nacht so kurz war, dass sein Geist keine Gelegenheit hatte, in Träume abzudriften.

An seinem Sumi nippend ging er die Post durch, die Takan ihm gebracht hatte. Ein Brief von einem Familienoberhaupt aus Haus Korin, das ihn bat, seine Tochter zur Frau zu nehmen. Sie wird im nächsten Frühjahr fünfzehn, schrieb der Mann. Und sie ist bereits zur Frau erblüht. Ich würde Euch gerne zu einem formalen Dinner in meine Stadtvilla einladen, um sie Euch vorzustellen. Es sei denn, Ihr bevorzugt eine erste Begegnung in Eurer Residenz, was den Vorteil hätte, dass sie ihr neues Zuhause gleich in Augenschein nehmen kann.

Mit einem Schnauben legte Akkarin den Brief beiseite. Der Mann setzte zu viel voraus. Und ein vierzehnjähriges Mädchen? Sollte er jemals wieder bereit sein, sich auf eine Frau einzulassen, so wollte er kein Kind heiraten. Er wusste, er würde jede Frau in seinem Bett mit seiner dunklen Seite verderben. Wenn er seine Vorlieben schon nicht mehr abstellen konnte, dann musste die Frau in seinem Bett stark genug sein, um mit diesen fertigzuwerden. Und sie musste es wollen.

Er bezweifelte indes, dass eine solche Frau außerhalb von Sachaka existierte.

Sofern es sie überhaupt gab.

Der nächste Brief kam von dem Weingut, von dem die Gilde ihre Vorräte bezog. Die Ernte war in diesem Jahr äußerst erfolgreich, schrieb der Mann. Daher kann ich Euch bereits jetzt schon ein Angebot von acht Goldstücken pro Flasche Anurischem Dunkelwein machen.

Akkarin pfiff leise durch die Zähne. Es war bemerkenswert, dass die Verbindungen, die er diesbezüglich im Sommer hatte spielen lassen, noch immer wirkten. Und er verspürte eine leise Erheiterung, weil sich der Verkäufer direkt an ihn wandte.

– Lorlen! Ich habe hier etwas, das dich interessieren wird.

– Ich kann gerade nicht, Akkarin.

– Das macht nichts, ich bringe es dir vorbei. Bist du in deinem Büro?

– Ja. Aber ich habe zu tun.

– Es wird nicht lange dauern, versprach Akkarin und zog sich aus dem Gespräch zurück.

Das Schreiben zusammenfaltend erhob er sich von seinem Schreibtisch und verließ die Residenz. Draußen sog er die klare Luft in tiefen Zügen ein. Aus dem Wald strömte der Duft von vermodertem Laub und von irgendwo aus dem Inneren Ring nahm er den Geruch brennenden Holzes wahr. Es war Winter.

Zwei Magier kamen ihm entgegen, als er die Stufen zur Universität emporstieg. Sie grüßten ihn ehrfürchtig und eilten dann sich in gedämpften Stimmen unterhaltend weiter. Akkarin verkniff sich ein Lächeln. Er brauchte seine Sinne nur auszustrecken, um sie dennoch zu verstehen, hätte er das gewollt. Ein Lehrer scheuchte mit strenger Miene einen Novizen die Treppe hinab. Akkarin beobachtete, wie sie in dem Korridor verschwanden, in dem das Büro des Rektors lag.

In Lorlens Büro herrschte behagliche Wärme. Seine Miene wirkte indes so gestresst wie eh und je.

„Ich habe nicht viel Zeit, Akkarin“, sagte er. „Was ist es, was du mir zeigen willst?“

„Das hier.“ Akkarin reichte ihm das Schreiben.

Lorlen nahm das Papier entgegen und zuckte zurück. „Deine Finger sind eisig! Was hast du gemacht?“

„Ich kam ohne Wärmeschild her.“ Ein Lächeln zerrte an seinen Mundwinkeln. „Und so kuschelig, wie du es dir in deinem Büro gemacht hast, war die vorherige Abkühlung genau die richtige Entscheidung.“

„Keine Hand kann auf dem kurzen Weg von deiner Residenz in die Universität derart auskühlen“, erwiderte sein Freund, während er kopfschüttelnd das Schreiben entfaltete.

Erheitert beobachtete Akkarin, wie seine Augen über den Inhalt flogen und sich dann weiteten.

„Acht Goldstücke?“, rief er. „Das ist ein unglaubliches Angebot, was du da ausgehandelt hast!“

„Ich habe gar nichts ausgehandelt.“ Erheitert hob Akkarin die Augenbrauen. „Anscheinend hatten meine Worte im Sommer eine nachhaltige Wirkung.“

„Dann hoffe ich, dass dieser Jahrgang kein billiger Fusel wird. Wenn der Wein fertig ist, fordere ich eine Flasche zur Probe an. Denn so wie ich unsere kleine Familie kenne, wirst du nicht der Einzige sein, der sich über die Qualität beschwert.“

Akkarin verkniff sich sein Lächeln. „Ich wusste, diese Neuigkeit würde dich aufmuntern.“

Lorlens Blick huschte zurück zu dem Brief in seiner Hand. „Ich wundere mich nur, dass er dir das Angebot gemacht hat, anstatt mir.“

„Es wäre nicht der erste Brief, der an den falschen von uns beiden geht“, sagte Akkarin an Dannyls Bericht denkend, der offenkundig vertraulich genug gewesen war, dass Lorlen ihn in seiner von einem magischen Schloss gesicherten Box verstaute.

Die Augen seines Freundes verengten sich. „Soll das wieder eine Anspielung auf die Liebesbriefe sein, die ich dir weiterleite?“

„Eine derartige Unterstellung würde ich niemals machen“, erwiderte Akkarin ernsthaft. Er klopfte seinem Freund auf die Schulter. „Doch ich will dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten. Wir sehen uns, Lorlen.“

„Bis dann, Akkarin.“

Erfreut, weil es ihm gelungen war, seinen Freund aufheitern, kehrte Akkarin zurück zu seiner Residenz. Er wusste, der Effekt würde bald verfliegen und Lorlen wieder in seine Arbeitswut verfallen, aber es war ein gutes Gefühl, etwas bewirkt zu haben und für einen Augenblick die alte Vertrautheit wiederhergestellt zu haben.

Akkarin war überrascht, einen dunkelhäutigen Mann in der Uniform eines Kuriers in seinem Empfangsraum vorzufinden. Offenkundig hatte Takan sich bereits seiner angenommen, denn er saß in einem Sessel – Akkarins bevorzugtem Sessel – und nippte an einer dampfenden Tasse Sumi. Auf dem Tisch neben ihm lag ein nicht ganz dünner Umschlag.

„Guten Morgen“, grüßte Akkarin. „Ich nehme an, Ihr wolltet zu mir?“

Der Mann stellte die Tasse beiseite und stand hastig auf. Seine Uniform war verknittert, als hätte er darin eine längere Reise zurückgelegt.

„Ich grüße Euch, Hoher Lord“, sagte er und verneigte sich. „Ich komme mit einem schnellen Schiff direkt aus Jebem und bringe Euch eine Nachricht von einem Mann namens Malyk.“ Er wandte sich um und reichte Akkarin den Umschlag.

„Ich danke Euch“, erwiderte Akkarin. „Wo muss ich unterschreiben?“

„Hier.“ Der Kurier zog ein kleines Buch aus seiner Uniformjacke und schlug es auf.

Akkarin nahm das Buch entgegen und trug es zu seiner Anrichte, wo er Papier, Tinte und eine Schreibfeder in einer der Schubladen aufbewahrte.

„Ich danke Euch, Hoher Lord“, sagte der Kurier, als Akkarin ihm das Buch zurückgab. „Ich wünsche Euch noch einen angenehmen Tag.“

„Ebenfalls“, erwiderte Akkarin.

Zu neugierig, um den Brief erst zu seinem Schreibtisch zu bringen, ließ er sich in seinen Sessel sinken und öffnete ihn. Dann begann er zu lesen.

Interessant, dachte er, als er den Bericht beendet hatte. Nach einer ausführlichen Beschreibung, wie Dannyl sich mit dem in Jebem stationierten Botschafter der Gilde des Konflikts zwischen dem Großen Clan Koyhmar und dem Ältestenrat angenommen hatte, folgte eine Auflistung seiner Freizeitaktivitäten. Zu all diesen hatte er seinen Assistenten mitgenommen. Während Malyk offenkundig glaubte, Akkarin war auf der Suche nach einem Beweis, dass Dannyl eine Affäre mit seinem Assistenten hatte, waren diese Informationen für Akkarin jedoch nicht von Interesse. Interessant war hingegen, dass Dannyl neben einer Besichtigung der Hauptstadt Lonmars den Prächtigen Tempel besucht und dort offenkundig mehrere Stunden mit dem Hohepriester verbracht hatte.

Erst die Große Bibliothek, dann der Prächtige Tempel … Zwei Übereinstimmungen waren indes zu wenig, um zu beurteilen, ob es sich um Zufall oder Absicht handelte. Beides waren Sehenswürdigkeiten, die für jeden Reisenden obligatorisch waren.

Die letzte Seite enthielt eine Liste mit Dingen, die Dannyl während seines Aufenthalts in Lonmar in irgendeiner Weise erhalten hatte. Darunter Wein und Delikatessen, sofern diese Dinge in Lonmar diese Bezeichnungen überhaupt verdient hatten. Sein Assistent hatte sich zudem ein traditionelles lonmarsches Gewand schneidern lassen. Zuletzt folgte eine Auflistung des Briefverkehrs des Botschafters. Bis auf einen Brief seines Vorgesetzten Errend hatte Dannyl keine Post aus Übersee erhalten, dafür hatte er drei Briefe an Lorlen geschickt. Per Kurier.

So, vertraulich? Akkarin runzelte die Stirn. Und warum hatte er keinen einzigen Brief an Lord Rothen gesandt? Der Alchemist war Dannyls engster und einziger Freund. Würde er ihm nicht von einer solchen Reise berichten?

Sein Puls begann sich auf unangenehme Weise zu beschleunigen und er musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Das alles musste nichts zu bedeuten haben. Wenn Akkarin jedoch daran dachte, was auf dem Spiel stand, zog er es vor, misstrauisch zu bleiben.

Er richtete seinen Willen auf sein zweites Blutjuwel, in der Hoffnung, Dana würde es zufällig benutzen. Doch offenkundig bewahrte sie es gerade in ihrem Medaillon auf. Obwohl Akkarin sie genau dazu angewiesen hatte, als er ihr das schwarzmagische Artefakt vor so langer Zeit gesandt hatte, kam er nicht umhin, eine leise Verärgerung zu verspüren.

Um zu erfahren, wann sie das Blutjuwel berührte, dehnte er seine Kontrolle darüber aus. Spätestens in der nächsten Woche würde sie ihn wieder rufen, um ihm den neusten Klatsch und Tratsch aus Elyne zu berichten und ihm die Fortschritte ihrer beiden Kinder zu zeigen.