Das Loch nach dem Langzeitprojekt

Dass ich am Ende von meinem Fanfiction-Epos in ein tiefes Loch fallen würde, war eine unumstößliche Tatsache, seit mir nach Beenden der Rohfassung der „Königsmörderin“ bewusst wurde, dass ich schon zwei Drittel meiner alternativen Fortsetzung geschrieben habe.

Nachdem ich dieses Jahr ein neues Langzeitprojekt begonnen hatte, das ich mindestens ebenso liebe wie die schwarzen Magier, dachte ich, das würde mir erspart bleiben. Schließlich würde ich nicht plötzlich vor der Frage stehen, was ich als Nächstes schreibe. Ich brannte für etwas Neues. Trotzdem fiel ich ein paar Tage nach der Fertigstellung der Rohfassung von „Das Erbe 3“, nachdem ich ein Abschiedsritual durchgeführt hatte, in ein tiefes Loch. Mit einem Mal waren alle positiven Gefühle aus mir herausgesaugt. Nichts war mehr schön; da war nur diese schmerzende, hoffnungslose Leere. Ich wollte weinen und konnte nicht. Ich war überzeugt, mein neues Projekt nicht mehr lieben zu können. Ich war sogar überzeugt, meine Liebe zu diesem durch die letzten zwei Monate zerstört zu haben oder dass diese Liebe nur ein Hirngespinst gewesen war. Nichts hat mehr Sinn gemacht und ich wusste nicht, womit ich meine Zeit verbringen soll.

Nicht zu wissen, was ich mit plötzlich freigewordener Zeit anfangen soll, ist zum Teil der Tatsache verschuldet, dass ich Routinen mag und brauche. Wenn diese plötzlich wegfallen, hat das einen unmittelbaren negativen Effekt auf mein Gemüt. Nun hatte ich eigentlich einen Plan und unerwartet war das Projekt nun auch nicht zu Ende. Ich würde in mein neues Projekt einsteigen; an meinem Tagesablauf würde sich dadurch nichts ändern. Ich würde tun, was ich immer tue, nur mit einem anderen Projekt. Schließlich war das nicht das erste Mal, dass ich ein Projekt wechsele. Aber ich konnte nicht. Selten war mir weniger nach Schreiben. Mit einem Mal war ich in einem schwarzen Stimmungsloch.

Nun kann ich mir Besseres vorstellen, als wochenlang in einem schwarzen Loch zu hocken, meinem Alltag mit halber Kraft nachzugehen, lustlos Dinge zu tun, die ich liebe, die mir aber gerade keinen Spaß machen – und irgendwann bin ich wieder draußen. Das fühlt sich nach Zeitverschwendung an. Dabei ist das schwarze Loch keine Zeitverschwendung. Ich empfinde diese Leere und Trostlosigkeit nicht ohne Grund. Früher hätte ich mich in das neue Projekt gestürzt, meine Gefühle ignoriert und irgendwann darüber vergessen, dass es mir nicht gutgeht. Irgendwann, sehr viel später, hätte mich das jedoch eingeholt und ich hätte mich in einer sehr viel größeren Krise wiedergefunden. Das hatte ich vor drei Jahren in einem anderen Kontext und ich möchte nicht wieder dorthin. Obsessionen sind ein super Coping Mechanism, aber man sollte verantwortungsbewusst damit umgehen.

Durch jene Krise damals habe ich gelernt, meine Gefühle zu analysieren. Weil ich ein analytisch veranlagter Mensch bin, der die Dinge auseinandernimmt, funktioniert das für mich sehr gut. Manchmal sind meine Gefühle jedoch zu diffus, um auseinandergenommen zu werden. In diesem Fall analysiere ich die Umstände der Krise. Kommt am Ende für mich aufs Selbe raus.

Für gewöhnlich befinden sich meine Gefühle entweder an der Wahrnehmungsschwelle oder bei DEFCON 3. Dazwischen gibt es nicht sehr viel. Auf große, einschneidende Ereignisse kann ich sowohl mit dem einen als auch mit dem anderen Extrem reagieren. Manchmal nehme ich negative Gefühle erst wahr, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum aufgestaut haben. Und dann ist es meistens schon zu spät. Als ich mit „Das Erbe 3“ fertig war, habe ich mich sehr stoisch gefühlt. Das war seltsam; ich wusste, dass ich eigentlich etwas fühlen sollte. 12 Jahre und 6 Millionen Wörter in einem Fandom sollten nicht spurlos an einem vorbeigehen. Obwohl ich noch nie ein so umfangreiches Schreibprojekt hatte, hat es sich nie so angefühlt. Für mich war es „normal“ und das ist schon seltsam, weil ich genau weiß, dass es das nicht ist, und ich mich deswegen als Sonderling unter den Autoren empfinde. Ich schätze, dass durch diese Normalisierung, mir nicht bewusst war, was diese 12 Jahre und 6 Millionen Wörter für eine Reise darstellen, und welche Reise ich als Mensch in dieser Zeit gemacht habe. Diese 12 Jahre und dieses Projekt haben mich verändert und sind zugleich Teil einer fortlaufenden Selbstfindung. Es ist wichtig, das nicht mit einem Schulterzucken abzutun und dann wieder zum Alltag überzugehen.

Das schwarze Loch ist nicht umsonst da. Die Gefühle von Leere und Traurigkeit sind nicht umsonst da. Ich kann nicht mein neues Herzensprojekt angehen, ohne mich damit auseinanderzusetzen. So etwas geht per Definition nach hinten los. Es würde zu etwas heranwachsen, über das ich keine Kontrolle mehr habe. Indem ich mich sofort mit dem schwarzen Loch auseinandersetze, habe ich eine Chance zu verhindern, dass es Macht über mich erlangt.

Leider sind meine gegenwärtigen Gefühle diffus, unspezifisch, ohne klar erkennbaren Kontext. Nur der zeitliche Zusammenhang sagt mir, dass es mit dem Ende meines Langzeitprojekts zu tun haben muss. Sie stehen nur für andere Gefühle, die ich nicht bewusst wahrnehmen kann. Also habe ich überlegt, was das Projektende für mich bedeutet.

Ich habe sämtliche Ereignisse der vergangenen zwölf Jahre aufgelistet, die mich in irgendeiner Weise geprägt haben. Mein Leben erscheint unspektakulär und seit Jahren weitgehend gleich, doch während ich diese all diese Ereignisse aufschrieb, fiel mir auf, dass noch viel mehr passiert ist, als an was ich mich erinnere, wenn ich an diese Zeitspanne denke. Das war ziemlich beeindruckend. Mein Leben hat sich verändert und ich habe mich verändert.

Dann habe ich darüber nachgedacht, was das Ende meines Fanfiction-Epos konkret für jetzt und die Zukunft bedeutet. Und darüber wurde mir klar, dass es eine Veränderung bedeutet, die ich überhaupt nicht wahrgenommen habe.

Veränderungen sind meine Nemesis. Sie zerren an meinem kognitiven Weltgefüge. Klingt sehr geschwollen, aber ich kann es nicht besser beschreiben. Selbst Veränderungen, auf die man sich lange im Voraus vorbereiten kann, können das bewirken. Es ist immer ein längerer, mentaler Prozess, den ich durchlaufen muss, bis das Weltgefüge wieder in Ordnung gebracht ist oder sich in einer neuen Ordnung eingefunden hat. Und es kostet jedes Mal unfassbar viel Kraft.

Dass das mit der Gilde so sein könnte, auf die Idee bin ich wahrlich nicht gekommen. Mein naiver Gedanke war, nach Abschluss des letzten Teils freudig in das neue Herzensprojekt wieder einzusteigen. Es ist schließlich nicht so, als hätte ich noch nie ein Schreibprojekt gewechselt. Nur habe ich noch nie ein solch langes und umfangreiches Projekt beendet. Anscheinend laufen unter der Oberfläche meines Bewusstseins gerade Prozesse ab, mit denen ich mich beschäftigen muss.

Also habe ich mir angeschaut, was genau sich verändert und was das für mich bedeutet.

Zwölf Jahre lang war die Gilde mein mentales Refugium. Die Charaktere und ihre Welt haben mich durch gute und schlechte Phasen begleitet. Jetzt ist ihre Geschichte, oder besser gesagt mein kompletter Headcanon, zu Ende erzählt. Davor war diese Welt lebendig, die Charaktere waren lebendig. Doch sobald ich eine Geschichte geschrieben habe, hört diese auf, für mich lebendig zu sein. Weil sie auserzählt war. Das war nach jedem einzelnen Teil so. Nach jedem einzelnen Teil ist dadurch etwas in mir einen kleinen Tod gestorben. Jetzt ist alles auserzählt. Die Charaktere, auch wenn sie nach wie vor in der Geschichte existieren, haben diese Lebendigkeit eingebüßt. Aber sie und ihre Welt haben einen sehr großen Teil meiner inneren Welt ausgemacht. Die Gilde war meine bis jetzt längste und intensivste Nerdobsession. Ich musste erst in das schwarze Loch fallen, um zu begreifen, auf wie vielen Ebenen die Gilde Einfluss auf mein Leben hatte. Dieser Einfluss ist nun fort. Und ja, das ist eine enorme Veränderung, die ich noch immer nur in Teilen begreifen kann.

Bei früheren Obsessionen (und ich hatte schon einige, die meisten betrafen fiktive Werke) war die Begeisterung irgendwann vorbei und dann kam eine neue. Allerdings waren diese niemals so langlebig und intensiv, weil ich bis zur Gilde nie dazu Fanfiction geschrieben habe und folglich niemals so tief darin gelebt habe. Nach ein paar Wochen oder Monaten war das Objekt meiner Begeisterung plötzlich uninteressant.

Es spielt keine Rolle, dass ich seit ein paar Monaten ein neues mentales Refugium habe. Es ändert nichts daran, dass das alte Refugium in mir all diese Monate über noch existiert hat und dass jene Welt noch in mir lebendig war, weil die Geschichte noch nicht zu Ende erzählt war. Es spielt auch keine Rolle, dass ich eines Tages noch andere Geschichten zur Gilde schreiben werde, da diese nicht zu meinem Headcanon gehören werden. Mit dem Ende von „Das Erbe 3“ hat eine ganze Welt in mir aufgehört, lebendig zu sein. Das Fanfiction-Epos, das ich in den vergangenen 12 Jahren geschrieben habe, hat für mich eine Ära oder einen Lebensabschnitt definiert. Die mit ihm verbundene innere Welt wird immer ein signifikanter Teil von mir bleiben, den ich nicht ohne mit der Wimper zu zucken, begraben kann, als hätte er nie existiert. Aber genau das hätte ich getan, hätte ich mich einen Tag später kopfüber in mein Herzensprojekt gestürzt.

Seit mir das klargeworden ist, ist das schwarze Loch kleiner und weniger dunkel. Ich kann mein neues Herzensprojekt wieder lieben und das nicht nur rational, sondern auch emotional. Die irrationale Angst, es nicht mehr lieben zu können, hat sich in Luft aufgelöst. Inzwischen vermisse ich es wieder schmerzlichst, und mein Herz singt, wenn ich an das Projekt denke, doch ich habe entschieden, mir noch ein paar Tage Zeit zu lassen. Jetzt ist sowieso Weihnachten – für mich die Zeit der Entschleunigung und Selbstreflektion. So ein weniger weiter über die letzten 12 Jahre zu analysieren und zu reflektieren, erscheint mir passend. Dadurch, dass ich zum ersten Mal seit Jahren bewusst Urlaub von meinen Schreibprojekten mache, kann ich meine Gefühle und Bedürfnisse viel deutlicher wahrnehmen. Sich dafür Zeit zu nehmen, ist niemals eine Verschwendung.


Disclaimer:

Dieser Blogartikel behandelt ein Mental Health Thema und meinen Umgang damit. Meine Strategien sind weder allgemeingültig noch als Anleitung zu verstehen. Bei psychischen Problemen sucht euch bitte, sofern ihr das nicht schon getan habt, professionelle Hilfe.