Auszug aus Kapitel 1 – Der Sachakaner im Bolhaus
Ein kalter Wind fegte durch die dunkler werdenden Straßen von Imardin, heulte in den schmalen Gassen, riss welke Blätter von den Bäumen in den Gärten und klatschte große Regentropfen gegen die Fensterscheiben der Häuser, deren warmes Licht ein heimeliges Refugium verhieß.
Schaudernd schlug Cery den Kragen seines Mantels hoch und eilte die Stufen seines Wachhauses hinab. Obwohl es noch früh am Abend war, begegneten ihm nur wenige Menschen auf seinem Weg. Die wenigen Passanten, die unterwegs waren, huschten an Hauswänden entlang, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, die Mäntel dicht um ihre Leiber geschlungen.
In diesem Jahr war der Herbst früh gekommen. Mit dem Ende der Erntezeit war die Arbeitslosigkeit gestiegen – und mit ihr die Kriminalität. Die Menschen bereiteten sich auf den Winter vor und damit begannen Streitigkeiten um Schlafplätze, Nahrungsmittel und warme Kleidung.
Dreizehn Jahre, seit der König die Säuberungen eingestellt hat und die Hüttenviertel als Teil der Stadt anerkannt hat, dachte Cery. Und so wenig hat sich geändert.
Angesichts aller Bemühungen, die Lebensqualität der Hüttenleute zu erhöhen, war dies ernüchternd. Vor einigen Jahren war ein zweites Krankenhaus im Äußeren Ring eröffnet worden. Dadurch, dass die Gilde Kinder aus allen Bevölkerungsschichten aufnahm, hatte sie mittlerweile genug Heiler zur Verfügung, um sich um die Bedürfnisse der Hüttenleute zu kümmern. Die Hüttenleute brauchten nichts für die Dienste der Gilde zahlen; tatsächlich wurden die Heiler aus ihren Steuern bezahlt. Die Hüttenviertel hatten ein funktionierendes Wasserleitungssystem und in jedem Bezirk stand eine aus Steuergeldern finanzierte Schule.
Und Cery war Captain der Stadtwache und einem dieser Bezirke zugeteilt.
Dreizehn Jahre zuvor hatte der König ihn und die anderen Diebe vor die Wahl gestellt, ihre Geschäfte zu beenden und in seinem Namen für Recht und Ordnung in den Hüttenvierteln zu sorgen oder hingerichtet zu werden. Die Diebe hatten sich einstimmig für die ehrliche Arbeit entschieden, obwohl die meisten ihre Geschäfte im Geheimen fortführten. Nur einer von ihnen war dabei erwischt worden, doch es war Cery und den anderen gelungen, ihn aus dem Gefängnis zu befreien und zur Flucht zu verhelfen. Jetzt machte Faren als Pirat die Meere unsicher, während seine Schwester den Untergrund von Imardin kontrollierte und den Dieben den Rücken freihielt. Cery traf seinen alten Freund hin und wieder, wenn dieser Siyo und Porzellan aus Vin oder Sumi aus Lan schmuggelte und die Schwarze Anyi für eine Nacht vor der Küste ankerte.
Die Hüttenleute vertrauten den Dieben mehr denn der ‘richtigen’ Stadtwache. Als ausübende Instanzen des Gesetzes verlangten die Diebe keine Gefälligkeiten für den Schutz der Hüttenleute, wohingegen Gefälligkeiten im nicht-offiziellen Teil der Arbeit der Diebe noch immer die vorrangige Währung war. Nichtsdestotrotz war die Verbrechensrate im Äußeren Ring mit den Dieben als Stadtwache kontinuierlich gesunken.
In den vergangenen Monaten hatte sich dieser Prozess jedoch wieder umgekehrt. Hier ein Raubüberfall, da ein Mord mehr – bis Cery gegen Ende des Sommers zwischen mehreren Verbrechen Zusammenhänge festgestellt hatte, die auf einen Serientäter schließen ließen. Bei seinen Nachforschungen in den Territorien der anderen Diebe hatte er weitere alarmierende Verbindungen gefunden, die Cery davon überzeugten, dass irgendetwas im Gange war.
Die anderen Diebe hatten diese Entwicklung noch nicht wahrgenommen, was Cerys Ermittlungen erschwerte, wo seine Kollegen ihn für verrückt erklärten, anstatt ihn zu unterstützen. Auf diese Weise fehlten ihm jedoch auch die Beweise, um sie zu überzeugen.
Für diesen Abend sahen seine Pläne jedoch etwas anderes vor.
Die Fenster des Bolhauses leuchteten Cery warm und einladend entgegen, als er um eine Straßenecke in Sevlis Bezirk bog. Gelächter hallte gedämpft nach draußen und verhieß eine gefüllte Schankstube. Ein Schild mit der Aufschrift ‘Harrins Bolhaus’ schaukelte über dem Eingang im Wind.
Von jugendlicher Vorfreude und warmen Erinnerungen an lange Abende über gestohlenem Bol erfüllt, eilte Cery auf die andere Seite der Straße. Auch mit Mitte dreißig und als Captain der Stadtwache und Vater von vier Kindern fühlte er sich hin und wieder noch wie der kleine Taschendieb von einst.
Mit einem Lächeln stieß Cery die Tür auf.
Eine Wand aus Hitze und Lärm schlug ihm entgegen. Menschen drängten sich an den Tischen und entlang der Theke oder standen, wo noch Platz war und sie der Bedienung nicht im Weg waren. Es roch nach Schweiß, Bol und Gorinbraten.
Den Kebin an seiner Hüfte zurechtrückend bahnte sich Cery seinen Weg durch die Menge. Seine kleine und unscheinbare Gestalt wurde oft von anderen ignoriert, doch das fand ein Ende, wenn die Leute erkannten, wen sie vor sich hatten. Und auch dieses Mal machten ihm die Gäste, als sie die Uniform der Stadtwache unter seinem Mantel erblickten, respektvoll Platz.
Cery hielt auf die Theke zu, hinter der ein hochgewachsener und muskulöser Mann Bol in Krüge zapfte.
„Hallo, Harrin!“
Der Wirt sah auf. Seine blauen Augen entdeckten Cery und funkelten. „Hai Cery!“ Sein Blick fiel auf Cerys Uniform. „Oder soll ich lieber Captain Ceryni sagen?“
Cery lachte. „Mach, was du willst. Ich hab’ Feierabend.“
Der Mann, der neben Cery auf einem Hocker saß, fuhr herum. „Capt’n Ceryni!“, entfuhr es ihm. „Willste meinen Hocker?“
Erheitert betrachtete Cery den Mann. Er war allenfalls wenige Jahre älter als er selbst. Mit dem glatten, schwarzen Haar und den hohen Wangenknochen war er ein typischer Kyralier. Seiner Statur und der Sonnenbräune nach arbeitete er auf den Märkten oder transportierte Lasten, und der Respekt in seinen Augen war unverkennbar.
„Noch nicht“, sagte Cery. „Später vielleicht.“
Eine Bewegung und ein dumpfes Geräusch richteten seine Aufmerksamkeit wieder auf die Theke. „Hast du Hunger?“, fragte Harrin.
Cery griff nach dem Krug, den sein Freund vor ihm abgestellt hatte, und nahm einen tiefen Zug. „Und wie!“, rief er. „Was gibt’s heute?“
„Gorin mit gebratenen Tugor und Pachi.“
„Lass die Pachi weg und tu was Brot dazu, dann werde ich’s essen.“
„Lass das Donia nicht hören“, mahnte Harrin. „Sie sagt, Pachi gehört dazu.“
„Obst gehört nicht ins richtige Essen, aber ich nehm’ gern ’ne gebackene Pachi als Nachtisch.“
„Ich werd’ sehn, was ich tun kann. Aber Donia könnte was wild werden.“ Harrin verschwand durch die Tür hinter der Theke. Mit ihm wehte ein köstlicher Duft in die Schankstube und Cery vernahm das Gewirr hitziger Stimmen und das Zischen von Pfannen.
Während er auf sein Essen wartete, sah er sich um. Das Bol wärmte seinen Magen und die Hitze tat ihr Übriges, seinen Mantel abzulegen.
Harrin hat’s wirklich geschafft, dachte er. Das Bolhaus hatte einst Donias Vater gehört. Gellin hatte sich jedoch vor einigen Jahren aus dem Geschäft zurückgezogen. Während seine Gicht von den Heilern behandelt wurde, war seine Kurzsichtigkeit mit den Jahren immer schlimmer geworden. Als Harrin und Donia geheiratet hatten, hatte Gellin das Bolhaus seinem Schwiegersohn vermacht und sich um die Bestellungen gekümmert, bis ihn sein Augenlicht ganz verlassen hatte. Donia, die früher als Serviermädchen gearbeitet hatte, hatte nach dem Tod ihrer Mutter die Herrschaft über die Küche übernommen. Harrin erledigte die Bestellungen nun selbst.
Neben Kyraliern erblickte Cery unter den Gästen zahlreiche Vertreter anderer Völker. Diese kamen oft nach Imardin auf der Suche nach Arbeit oder in der Hoffnung auf einen Neuanfang – und wurden ebenso häufig enttäuscht. Neben einem Tisch mit hellhaarigen Elynern saßen mehrere kleine, schlitzäugige Vindo und zwei Lonmars. Lans kamen seltener in die Stadt, weil sie das raue Leben in den Bergen ihrer Heimat vorzogen. Dafür erblickte er jedoch mehrere Sachakaner.
Seitdem der Krieg ein Ende gefunden hatte und die Verbündeten Länder politische und wirtschaftliche Beziehungen zu ihrem Nachbarn im Osten pflegten, kamen vermehrt Sachakaner in die Stadt. Die meisten waren ehemalige Sklaven. Bei den Friedensverhandlungen zehn Jahre zuvor war Sachaka gezwungen gewesen, seine Gesetze zur Sklavenhaltung zu lockern. Herrenlose Sklaven durften ihr Land nun verlassen, andere wiederum bauten in Imardin Handelsposten für Raka und exotische Gewürze und Nahrungsmittel auf. Wo Sachakaner einst gefürchtet waren, hatten sich die Stadtbewohner an sie gewöhnt und gelernt, dass die wenigsten von ihnen gefährlich und feindselig waren.
Tatsächlich verübten die in der Stadt lebenden Sachakaner die wenigsten Verbrechen, so als fürchteten sie, dass man sie andernfalls des Landes verwies. Gewillt, mit gutem Beispiel voranzugehen, hatte Cery einen von ihnen zu seinen Wachen aufgenommen. Zavako hatte in seinem Land der Unterhaltung gedient, indem er für seinen Meister Schwertkämpfe mit anderen Sklaven bis aufs Blut ausfocht. Nach seiner Befreiung war er nach Kyralia ausgewandert und hatte nach einer Arbeit gesucht, die seinen Fähigkeiten gerecht wurde. Cery war auf ihn aufmerksam geworden und hatte seine Vorgesetzten überzeugt, den Mann auszubilden.
Es hatte eine Weile gedauert, bis seine Männer und seine Schutzbefohlenen Zavako akzeptiert hatten, doch mittlerweile nahm kaum noch jemand Anstoß an seiner Herkunft.
„Donia sagt, Pachi als Nachtisch geht klar.“ Harrin stellte einen dampfenden Teller vor Cery ab. „Sie war nicht erfreut, aber nicht so entflammt, wie ich dachte.“
„Schwangere Weiber sind leicht reizbar“, stimmte Cery zu. „Was das betrifft, bin ich froh, dass Nenia und ich keine Kinder mehr wollen.“
„Mir hätten drei gereicht. Aber Donia wollte mehr. Sie sagt, dann können sie eines Tages das Bolhaus übernehmen.“
„Hai! Sofern sie das wollen!“
„Das hat sie mit einberechnet.“
Während Cery sein Abendessen verschlang, plauderten sie über ihre Familien. In solchen Momenten schien es zuweilen schwer zu glauben, wie weit sie beide es gebracht hatten. Bevor Cery angefangen hatte für die Diebe zu arbeiten, war er Harrins rechte Hand in dessen Bande gewesen. Während er zum mächtigsten Dieb Imardins und schließlich zum Captain der Stadtwache aufgestiegen war, hatte sein Freund ein Bolhaus übernommen. Sie beide hatten eine Familie gegründet und hatten eine sichere und anständige Arbeit, um diese zu versorgen.
Schließlich schob Cery seinen Teller mit einem Seufzen von sich. „Ah, das war gut!“, sagte er. „Auch ohne Pachi.“
Harrin grinste und winkte einen Servierjungen heran, der den Teller in die Küche brachte. „Noch’n Bol?“
Cery wollte nicken, doch dann veränderte sich die Stimmung im Raum und er sah auf.
Die Türen waren aufgegangen. Mit ihnen wehte ein Schwall kalter Luft in die Hitze der Schankstube. Die Gespräche der Gäste verstummten als alle ihr Gesicht zu dem Neuankömmling wandten.
In der Tür stand eine kleine Gestalt, das Gesicht unter der Kapuze eines schwarzen Umhangs verborgen. Als sie eintrat, erhaschte Cery einen Blick auf etwas Schwarzes darunter.
Magierroben.
„Ist sie das?“, murmelte jemand.
Cery wandte sich zu dem Gast neben ihm. „Jetzt brauche ich deinen Hocker.“
Die Gestalt schlug die Kapuze zurück und bahnte sich ihren Weg durch die Menge, die respektvoll und nicht ohne Ehrfurcht vor ihr zurückwich. Ihr Gesichtsausdruck wirkte kühl, doch als ihr Blick auf Cery und Harrin fiel, leuchteten ihre dunklen Augen auf. Cery verkniff sich ein Grinsen. Selbst nach so langer Zeit sorgte ihr Auftauchen in der Stadt noch immer für Aufsehen.
„Guten Abend, ihr zwei“, grüßte Sonea und setzte sich auf den freien Hocker neben ihm.
„Hai Sonea!“, erwiderte Harrin von der anderen Seite der Theke. „Was darf’s sein?“
„Bol.“
Harrin hob vielsagend die Augenbrauen. „Auch was essen?“
„Ich hatte schon.“
„Kein Raka heute?“
„Später“, antwortete Sonea, ein rebellisches Funkeln in ihren Augen, „bevor ich gehe.“
„Damit dein Mann nix merkt?“
Soneas Blick fiel auf den Ring an ihrer rechten Hand. Das rote Juwel glitzerte im Schein der Laternen. „Würde mich wundern, wenn’s ihm entgeht.“
Harrin lachte. „Du bist die Einzige von meinen Gästen, die Raka bestellt.“ Er stellte einen Krug vor ihr ab. „Zum Wohl, die Lady. Möge dir das Bol zuhause keine Reibereien beschweren.“
„Zumindest keine, die ich nicht selbst ’rausfordere“, gab sie zurück. Sie nahm einen tiefen Zug. „Ah, dieses Bol’s jede Form des Ungehorsams wert!“
Harrin grinste und verschwand dann in die Küche, wo Cery ihn etwas brüllen hörte. Er schüttelte den Kopf. Zuhause gab Sonea sich als die gehorsame, kyralische Ehefrau, wenn sie sich mit ihren Freunden traf, sprach sie hingegen Hüttenslang und trank Bol. Nicht immer, aber zumindest immer dann, wenn es ihr nach ein wenig Rebellion verlangte. Soweit Cery wusste, war dies eine Art Spiel, zwischen ihr und ihrem Mann, nur dass sie es immer spielten.
Als er den Kopf wandte, bemerkte er, dass Sonea ihn über den Rand ihres Kruges hinweg musterte.
„Schön, wieder hier zu sein“, sagte sie.
„Ja“, stimmte Cery zu. „Das letzte Mal’s ein paar Monate her.“
Den Sommer über war Sonea mit irgendwelchen Gildenangelegenheiten beschäftigt gewesen, danach hatte die Verbrechensaufklärung Cery zu sehr für einen freien Abend beansprucht. Irgendwie hatte es nie einen passenden Zeitpunkt gegeben. In der vergangenen Woche waren sie einander begegnet, als Sonea auf dem Rückweg von dem Krankenhaus, in dem sie an einem Tag in der Woche aushalf, gewesen war, und entschieden, dass es Zeit für ein Treffen in Harrins Bolhaus wurde.
Versonnen betrachtete er seine Freundin aus Kindertagen. Eine leichte Röte lag auf ihren Wangen, ihr dunkles Haar war geflochten und festgesteckt, so wie die verheirateten Frauen aus den Häusern es trugen. Auch nach zwei Kindern war Sonea noch immer zierlich, wenn auch nicht mehr so dürr, wie als sie zur Magierin geworden war. Obwohl ihre Gesichtszüge erwachsen geworden waren, wirkte sie auf den ersten Blick als wäre sie zehn Jahre jünger.
Sonea sah auf. Als ihre Blicke einander trafen, lächelte sie. „Wie geht’s dir?“, fragte sie. „Was treiben deine Frau und deine Kinder?“
„Uns allen geht’s gut“, antwortete Cery. „Die kleine Ysana kann seit’n paar Monaten sprechen.“
„Sie ist zwei“, sagte Sonea. „Sollte sie das nicht schon länger?“
Cery hob die Schultern. „Donia sagt, manche Kinder sind da etwas zurück.“ Er grinste. „Ihr erstes Wort war Mistkopf.“
Sonea begann zu lachen.
„Mistkopf?“, rief sie. „Oh Cery, das ist nicht dein Ernst!“
Cery spürte, wie er rot wurde.
„Nun, sie muss es von ihrem Bruder aufgeschnappt haben“, erwiderte er verlegen. Dann wurde er wieder ernst. „Leider hab’ ich gerade wenig Zeit für meine Familie. In den Hüttenvierteln’s irgendwas im Gange. Nicht, dass das nicht immer so wäre, aber dieses Mal sieht’s aus, als wären mehrere Fälle in verschiedenen Bezirken verbunden. Ich bin der Sache auf der Spur und arbeite mehr, als mir lieb ist.“
Sonea betrachtete ihn mitfühlend. „Vielleicht hätten wir unser Treffen besser verschoben, bis du diesen Täter geschnappt hast“, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf. „Passt schon. Nenia macht’s nix aus, wenn ich meine Familie einen Abend für meine besten Freunde vernachlässige.“
„Hast du die anderen Diebe um Hilfe gebeten?“
„Sie nehmen die Sache nicht ernst.“ Er schüttelte frustriert den Kopf. „Das Problem’s, dass ich keine Beweise hab’.“
„Vielleicht willst du nur, dass dort etwas ist, und siehst Dinge, die nicht da sind.“
„Wieso sollte ich das?“
Sonea hob die Schultern. „Weil du dich nach Abwechslung sehnst?“
„Glaub mir, vier Kinder und mein Bezirk sind mir Abwechslung genug.“ Befindend, den Abend nicht mit seinen düsteren Gedanken verderben zu wollen, setzte Cery ein Lächeln auf. „Aber genug davon. Was gibt’s Neues aus der Gilde?“
„Nix“, antwortete Sonea. „Viel Arbeit, sinnlose Diskussionen mit den höheren Magiern, zu wenig freie Zeit …“
„Klingt langweilig“, bemerkte er.
„Ist es auch.“
„Also kommst du her und rebellierst gegen deinen Mann, um etwas Abwechslung zu kriegen.“
Sonea bedachte ihn mit einem finsteren Blick.
Cery lachte. „Ich würde euch ja anbieten, einen Tag raus zu der Insel zu fahren, aber um diese Jahreszeit ist’s zu kalt zum Baden.“
„Oh, wir könnten das Wasser mit Magie aufheizen. Nur dass es ’ne ziemliche Verschwendung von Magie wäre.“
„Als wenn ihr diese nicht im Überfluss hättet!“
Harrin kam mit mehreren dampfenden Tellern aus der Küche und brachte sie zu einem der Tische in der Nähe. Ihm folgte eine Frau, deren Bauch seit Cery sie das letzte Mal gesehen hatte, einiges an Umfang gewonnen hatte.
„Donia!“, rief Sonea erfreut. „Wie geht’s dir?“
Harrins Frau kletterte auf einen Hocker hinter der Theke. „Dafür, dass das Kind im Winter kommen soll, erstaunlich gut.“ Sie strich über ihren Bauch. „Aber’s heißt, mit jedem Kind wird’s leichter.“
„Nach fünf Bälgern sollte man das auch meinen“, bemerkte Cery.
„Donia, wie viele Kinder willst du noch kriegen?“, fragte Sonea entsetzt.
„Nach diesem hier mach’ ich erstmal eine Pause. Aber so in zwei, drei Jahren könnte ich mir noch’n paar Kinder vorstellen.“
Soneas Miene nahm den Ausdruck an, den sie immer hatte, wenn die Magierin in ihr durchkam. „Hast du irgendwelche Beschwerden? Blutungen? Schmerzen?“
„Nur dicke Füße. Ich fühl mich wie’n Brotteig, der gerade geht.“
„Oh, wem sagst du das!“, rief Sonea. „Wenn’s zu schlimm wird, kann ich dir was dagegen geben.“
Die beiden Frauen begannen ein Gespräch über Schwangerschaftsbeschwerden und Cery gähnte in seinen Krug. Das einzig Bemerkenswerte daran war, dass sie dabei in Hüttenslang diskutierten.
Nachdem Sonea zur Magiergilde gegangen war, hatte sie einige Jahre keinen Hüttenslang gesprochen, weil ihre Herkunft ihr bereits genug Schwierigkeiten bereitet hatte. Irgendwann war sie jedoch dazu übergegangen, dieses Relikt aus ihrer Kindheit zu pflegen, wenn sie ihre Freunde besuchte. Cery wusste, ihr Mann missbilligte es, wenn sie auf ihre Wurzeln aufmerksam machte, doch er schien es zu tolerieren, wenn sie es in den Hüttenvierteln tat. Auf diese Weise wirkte die kleine schwarze Magierin den Bewohnern gegenüber weniger distanziert und Cery vermutete, sie genoss ihre kleine Rebellion, weil sie und Akkarin diese Reibungspunkte in ihrer Beziehung brauchten.
Gelangweilt sah Cery sich um. Harrin zapfte Bol und stellte es auf die Theke, wo ein Servierjunge die Krüge in die Löcher einer schmalen Holzleiste setzte. Eine Gruppe erhob sich von einem Tisch und verließ das Bolhaus. Dahinter erblickte Cery einen Tisch, an dem mehrere Kyralier und ein Sachakaner saßen. Für einen kurzen Augenblick trafen sich sein Blick und der des Sachakaners, dann wurde der freie Tisch von anderen Gästen eingenommen.
Cery wandte sich wieder dem Gespräch der beiden Frauen zu, das sich nun um Donias Vater drehte.
„Bevor ich nachher gehe, sehe ich nach ihm und lindere seine Beschwerden“, bot Sonea an.
„Kannst du auch was gegen seine Blindheit machen?“
Die kleine schwarze Magierin schüttelte den Kopf. „Mein Wissen über Heilkunst ist nur begrenzt, aber wenn nicht einmal die Heiler einen Weg kennen …“ Sie nippte an ihrem Krug. „Magie kann nicht alles heilen.“
Irgendwo hinter Cery entstand ein Tumult. Er und seine Freunde wandten die Köpfe.
„Nicht schon wieder eine Schlägerei“, murmelte Donia.
„Wer sich prügelt, fliegt raus!“, brüllte Harrin.
Seinen Kebin ziehend nickte Cery seinem Freund zu. „Komm, wir gehen da mal für Ruhe sorgen.“
Eine kleine Hand grub sich in seinen Arm. „Nicht“, sagte Sonea tonlos.
Cery fuhr herum. Das Gesicht seiner Freundin war zu einer Maske erstarrt. „Warum nicht? Es ist meine Aufgabe …“
„Cery, raus hier“, zischte sie ohne ihn anzusehen. „Sofort! Harrin, bring Donia in Sicherheit, die Gäste sollen das Bolhaus verlassen.“
„Sonea, was …“, begann Harrin.
Dann verstand Cery. Aus dem Tumult kämpfte sich ein großer, breitgebauter Mann heraus. Seine Haut hatte einen unverkennbaren Goldton. An seinem Gürtel blitzte ein juwelenbesetzter Dolch.
Der Sachakaner.
Sein Herz setzte einen Schlag aus.
„Alle raus hier!“, rief er. „Sofort!“
Die Gäste gerieten in Panik. Die Luft um den Sachakaner begann zu flimmern. Weiße Flammen züngelten von seinen Händen. Cery spürte, wie sich die Haare an seinen Unterarmen aufstellten, als Sonea neben ihm einen Schild errichtete. Irgendwo geriet etwas in Brand.
„Cery, verschwinde“, wiederholte sie. „Setz nicht dein Leben aufs Spiel.“
Cery erwachte aus seiner Starre.
„Sei vorsichtig“, sagte er. Dann half er Harrin, die Gäste nach draußen zu bringen.