Kindergarten mit dem Oberhaupt der Krieger (enthält Spoiler)

 

Sonea griff nach dem Krug und goss sich neuen Raka in ihren Becher. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie viele Tassen sie an diesem Tag bereits getrunken hatte. Wahrscheinlich waren es mehr, als ein Heiler für gut befinden würde.

„Seit wann lebst du in Kyralia?“, fragte sie den Mann, der ihr gegenübersaß.

„Seit anderthalb Jahren.“

„Warum bist du ausgewandert?“

„Mein Meister starb, ohne ’nen Erben zu hinterlassen.“

„Wie hieß dein Meister?“

„Sakavo, Sohn von Rikori.“

Regin machte sich eine Notiz. „Wir werden das überprüfen.“

„Tanara“, sagte Sonea. „Warum hast du dich nicht den Verrätern angeschlossen oder dich auf einem Stück Land in den Ödländern niedergelassen?“

„Die Verräter sehen in Männern noch immer Sklaven. Auch wenn sie was anderes behaupten. Ich wollte frei sein. Und wie soll ich mir’n Stück Land kaufen, wenn ich kein Geld hab’?“

„Also kamst du nach Kyralia“, folgerte Regin.

„Ja, Meister.“

„Es heißt ’Mylord’“, korrigierte Regin ungeduldig.

„Meilorrd“, wiederholte Tanara.

„Laut den Akten arbeitest du als Gehilfe in einer Schmiede, wo du auch wohnst. Hast du das gelernt?“

„Nee. Bei Ashaki Sakavo hab’ ich auf dem Feld gearbeitet. Doch ich brauchte Arbeit und kann hart anpacken. Der Meister der Schmiede hat mir ’ne Chance gegeben.“

„Das ist alles“, sagte Regin. „Wir werden nun dein magisches Potential testen und notieren. Für die Akten.“

Tanara zuckte kaum merklich zurück. „Ich wurde gestern schon getestet.“

„Dann wird es für dich kein Problem sein, erneut getestet zu werden“, entgegnete Regin.

„Es ist nur für die Akten“, sagte Sonea behutsam. „Du hast nichts zu befürchten. Ich werde dich testen.“

Sie hatten sich darauf geeinigt, dass Sonea die ängstlicheren Kandidaten testete, unabhängig davon, wen sie und Regin am Vortag bereits getestet hatten. Im Nachhinein fand Sonea, es wäre besser gewesen, hätten sie die Registrierung der in der Stadt lebenden Sachakaner durchgeführt, als sie diese in ihren Häusern oder bei ihrer Arbeit aufgesucht hatten, anstatt den offiziellen Weg zu gehen.

Tanara zog seine Hand aus der Hosentasche und legte sie auf den Tisch. „Dann testet mich.“

Sonea griff nach seiner Hand und sandte ihren Geist in seinen Körper. Sofort wurde sich einer magischen Quelle, die tief in ihm schlummerte, bewusst. Es war so lächerlich wenig, dass er in Kyralia nicht einmal zum Stärken magischer Blutlinien verheiratet worden wäre, so wie es die Häuser mit jenen taten, deren Magie für eine Ausbildung in der Gilde nicht ausreichte.

„Er hat magisches Potential“, teilte sie Regin mit. „Jedoch nur ein sehr schwaches.“

Regin sah auf. „Ich will seine Unterarme sehen.“

Sichtlich nervös zog Tanara seine Hand zurück.

Sonea stieß ihren Freund an.

— Regin!, schalt sie. Jetzt quäle ihn nicht mehr als nötig!

— Ich bin mir ziemlich sicher, dass er gestern noch kein magisches Potential hatte.

Sonea unterdrückte ein entnervtes Stöhnen.

— Du hast gestern viele Sachakaner getestet. Sicher verwechselst du ihn.

— Ich bin mir sicher.

— Regin, ich weiß, was ich gespürt habe.

— Und ich weiß, was ich gespürt habe.

— Dann hast du ihn vielleicht nicht gründlich genug untersucht. Bei deiner Abneigung gegen die einfache Bevölkerung wundert es mich nicht, dass du ihn nicht länger anfassen wolltest, als nötig.

Verärgert schüttelte Regin ihre Hand ab. „Denk, was du willst“, grollte er.

Sonea bedachte ihn mit einem finsteren Blick und wandte sich dann ein Lächeln aufsetzend, von dem sie hoffte, dass es motivierend wirkte, zu Tanara.

„Mein Kollege leidet an einer magischen Krankheit, die für Gedächtnisstörungen sorgt“, sagte sie. „Damit er beruhigt ist, zeig ihm deine Unterarme. Oder lass ihn erneut dein magisches Potential prüfen. Andernfalls wird ihn die Ungewissheit, ob sein Gedächtnis ihn getrogen hat, bis heute Abend in den Wahnsinn getrieben haben.“

Unter dem Tisch versetzte Regin ihr einen Tritt.

Zavako, der neben der Tür lehnte, wirkte amüsiert. Sonea erwiderte sein Lächeln kaum merklich, dann löste sich Cerys Mann von der Wand und begann schnellem Sachakanisch auf Tanara einzureden.

Tanara nickte und schob den Ärmel seines Hemdes zurück und entblößte einen von blassen Narben übersäten Unterarm. „Ich war eine Quelle“, sagte er.

„Darf ich …“, begann Regin, doch Sonea schnitt ihm das Wort ab.

„Mein Kollege wünscht, dich erneut zu testen“, sagte sie. „Tu ihm den Gefallen, dann ist er glücklich und du kannst gehen.“

Der Sachakaner war nicht begeistert, erhob jedoch keinen Widerspruch.

Mit einem salbungsvollen Lächeln berührte Regin das Handgelenk des Mannes und sandte seinen Geist aus. „Und ich war mir so sicher“, hörte Sonea ihn murmeln.

Sie begnügte sich mit einem süffisanten Lächeln und sah entschuldigend zu Tanara.

„Aber warum hat dein Meister dich als Quelle benutzt, wenn das Potential so klein ist?“, fragte Regin dann und Sonea unterdrückte ein Stöhnen.

„Er hatte nicht viele Quellen. In seiner Gegend gab es oft Ichani-Überfälle. Also nahm er alles, was er kriegen konnte. Das blieb auch nach dem Krieg so.“

„Gute Quellen sind in Sachaka sehr begehrt“, sagte Sonea, bevor Regin den armen Mann weiter quälen konnte. Sie sah zu Tanara. „Danke, dass du unsere Fragen beantwortet hast, Tanara. Du kannst jetzt gehen.“

„Musste das eben sein?“, fragte Sonea ungehalten, nachdem Zavako den Mann nach draußen begleitet hatte. „Warum musst du dich immer so aufspielen? Wir sind keine Novizen mehr!“

„Aber deine Bemerkung mit den Gedächtnisstörungen war ja auch so erwachsen!“, gab Regin wütend zurück.

Sonea leerte ihren Raka und goss sich neuen auf. Es war der Rest aus dem Krug. „Das war nur eine kleine Rache für dein ätzendes Benehmen. Diese Männer und Frauen waren einst Sklaven. Sie fürchten Magier, selbst wenn sie nur niedere Magie beherrschen. Du brauchst ihre Angst nicht noch durch dein wichtigtuerisches Verhalten zu verstärken.“

„Ich weiß, was ich gespürt habe.“

„Nun, anscheinend nicht. Solltest du öfter solche Gedächtnisschwierigkeiten haben, solltest du dich vielleicht einmal von Lady Vinara untersuchen lassen.“

„Bloß nicht!“

„Ich bin sicher, Trassia würde die Untersuchung ebenfalls mit Freuden durchführen. Oder ihre Freundin Indria, denn vor deinen Liebschaften unter den Heilerinnen würde dich das nur dein Gesicht kosten.“

Bei der Erwähnung von Trassias Namen verfinsterte sich Regins Gesicht. Er leerte seinen Sumi und griff nach dem Gebäck.

„Lass uns weitermachen, wir haben noch immer mehr als die Hälfte vor uns.“

„Dann halte dich zurück und wir können bis zum Abend fertig sein.“ Sonea nickte zur Tür. „Sag Zavako, er soll den nächsten Kandidaten holen. Und neue Getränke bringen lassen.“

„Ja, Hohe Lady.“ Eine Grimasse schneidend schritt Regin zur Tür. Er mochte es nicht, wenn Sonea die Befehle gab, obwohl er der Ranghöhere war. Doch sie war die schwarze Magierin. Und im Gegensatz zu ihm lag ihr etwas an der einfachen Bevölkerung und so hatte sie keine Skrupel damit, Rangordnungen und Gildenetikette zu ignorieren.

„Das Potential von dem Mann war wirklich schwach“, sagte er, als er zurückkehrte. „Ich kann kaum glauben, dass er eine Quelle war.“

„Gute magische Quellen sind selten. Wenn ein Magier die Wahl hat, ob er einen starken oder schwachen Sklaven kauft oder von seiner Beute am Leben lässt, wird er immer den starken wählen. Doch er nimmt auch, was er kriegen kann.“

Als Nächstes kamen ein Mann und eine Frau, die Sonea am vergangenen Tag im nördlichen Teil der Hüttenviertel bereits vorläufig befragt hatte. Obwohl seit einem Jahr in Kyralia, sprach die Frau fast nur Sachakanisch.

„Wir kamen zusammen her“, erzählte der Mann. „Wir gehörten ’nem Ashaki, doch wir konnten fliehen.“

„Wart ihr dort auch schon ein Paar?“

„Ja.“

„Wie hieß euer Meister?“

„Sareko.“

Regin machte sich eine Notiz. „Wie kommt es, dass euer Meister euch erlaubte zusammen zu sein?“

„Nicht alle Meister verbieten Beziehungen unter Sklaven. Wir haben beide kein magisches Potential und waren ihm daher nicht zur Erzeugung neuer Quellen nützlich. Außerdem hat er meine Frau nicht für sich beansprucht, weil er bereits ’ne Cachira hatte.“

„Klingt, als hättet ihr dort ein gutes Leben gehabt.“

„Es war gut, aber es war hart. Wir haben auch hier ein gutes, hartes Leben. Aber wir sind frei.“

Obwohl keine Magier, war das Paar mutiger, als Tanara und so übernahm Regin das Testen. „Kein magisches Potential“, erklärte er und machte sich eine Notiz.

Das hätte ich dir auch sagen können, dachte Sonea. Denn im Gegensatz zu dir kann ich mich sehr gut an die Menschen erinnern, mit denen ich gestern gesprochen habe.

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