Alternatives Ende zu „The High Lord“, in gekürzter Fassung auch nachzulesen als Prolog meiner Fanfiction-Trilogie Die Bürde der schwarzen Magier I – Der Spion. Der Anfang ist frei übersetzt aus dem Englischen. Alle Rechte an den Charakteren gehören Trudi Canavan.
Kapitel 38 – Die schwarzen Magier
In der vergangenen Stunde hatten Kundschafter berichtet, dass die Ichani langsam zur Gilde vorrückten und auf ihrem Weg dorthin Häuser zerstörten. Sonea und Akkarin waren zu den Freiwilligen geeilt, die auf ihren erneuten Besuch mit bewundernswertem Gleichmut und großer Tapferkeit reagiert hatten, dann waren sie zurück in den Inneren Ring gehastet.
Während sie unterwegs waren, brannte Sonea vor Ungeduld, doch als sie durch die Geheimtür in Lorlens Büro trat, wünschte sie, die Reise wäre nicht so schnell zu Ende gegangen. Mit einem Mal waren ihren Knie weich, ihre Hände zitterten und sie konnte nicht aufhören zu denken, dass sie irgendetwas Wichtiges vergessen hatten.
Akkarin hielt einen Augenblick inne, um sich in dem Büro umzusehen. Er seufzte, dann zog er sein Hemd aus. Sonea streifte ihr Kleid über den Kopf und warf es zu Boden. Sie blickte an sich hinab und erschauderte.
Richtige Magierroben … schwarze Magierroben.
Dann betrachtete sie Akkarin. Er wirkte aufrechter, größer. Ein leichter Schauer lief ihren Rücken hinab, ähnlich dem der Furcht, die er einst in ihr erweckt hatte. Doch was sie nun empfand, vermochte sie nicht in Worte zu fassen.
Akkarin betrachtete sie und lächelte.
„Hör auf, mich so anzüglich anzusehen.“
Sonea blinzelte unschuldig.
„Ich? Dich anzüglich ansehen?“
Sein Lächeln vertiefte sich und verblasste dann. Er machte einen Schritt auf sie zu und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände.
„Sonea“, begann er. „Wenn ich nicht …“
Sie legte einen Finger auf seine Lippen, dann zog sie seinen Kopf herab, so dass sie ihn küssen konnte. Er presste seine Lippen auf ihre, dann zog er sie fest in seine Arme.
„Wenn ich dich weit fortschicken könnte, würde ich das tun“, sagte er. „Aber ich weiß, du würdest dich weigern, zu gehen. Nur tue nichts Unüberlegtes. Und versuch, nicht die Nerven zu verlieren. Ich habe gesehen, wie die erste Frau, die ich liebte, gestorben ist. Ich könnte nicht weiter leben, würde ich auch die Zweite verlieren.“
Eine wilde Freude erfüllte Sonea, als sie erkannte, dass sie seine Gefühle am vergangenen Abend richtig gedeutet hatte. Sie holte tief Luft, wollte ihm sagen, dass sie ihn auch liebte, doch Akkarin beugte sich zu ihr herab und küsste sie erneut.
„Nicht“, flüsterte er. „Sag es mir, wenn das hier vorbei ist.“
„Das ist nicht fair!“, protestierte sie. Sie spürte, wie sich etwas in ihrer Brust schmerzhaft zusammenzog. „Was, wenn einer von uns beiden stirbt?“
Dann würde sie es ihm niemals gesagt haben …
Akkarin strich über ihre Wange. „Alles wird gut werden“, sagte er.
Seine Worte klangen zu schön um wahr zu sein und Sonea konnte den Gedanken nicht abschütteln, er wolle sie nur beruhigen, weil er wusste, sie würden diesen Kampf verlieren. Die plötzliche Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Sie hatte gerade erst aufgehört, sich seinen Tod zu wünschen. Lieber würde sie sich opfern, als zuzulassen, dass ihm etwas zustieß. Plötzlich erkannte sie, dass sie zu viel Zeit ihres Lebens darauf verschwendet hatte, ihn zu hassen und zu fürchten. Und sie weigerte sich zu glauben, dass das hier vielleicht das Ende war.
Die Angst drohte sie zu überwältigen, doch sie konnte es nicht über sich bringen, ihm das zu sagen. Stattdessen sah sie nur stumm zu ihm auf.
„Hab Vertrauen“, flüsterte er und küsste sie ein letztes Mal.
– Akkarin! Akkarin! Wie nett du es hier hast.
Die Kälte in Karikos Stimme ließ sie beide zusammenzucken. Ein Bild der Gildentore und der Universität im Hintergrund blitzte in Soneas Geist auf. Entsetzt sah sie zu Akkarin.
„Sie sind hier“, murmelte er. Seine Arme glitten von ihrem Schultern.
„Die Arena?“
Er schüttelte den Kopf. „Nur als letzter Ausweg.“ Sein Gesichtsausdruck war hart, als er durch den Raum zur Tür schritt.
Sonea straffte ihre Schultern, holte tief Luft und folgte ihm.
[…]
Alles war still. Sonea starrte auf die drei Leichen, die vor der Universität lagen. Eine Woge der Erschöpfung brach über sie herein. Sie verspürte keinen Triumph. Keine Freude. Nur Leere.
Sie wandte sich zu Akkarin.
Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Augen waren offen, doch auf irgendetwas hinter ihr gerichtet. Als sie sich bewegte, lösten seine Hände sich von ihren Handgelenken und fielen herab.
„Nein“, flüsterte sie. „Akkarin.“
Sie griff nach seinen Händen und sandte ihren Geist in seinen Körper. Nichts. Nicht einmal der kleinste Lebensfunke.
Er hatte ihr zu viel gegeben.
Er hatte ihr alles gegeben.
Kapitel 39 – Soneas Versprechen
„Nein“, flüsterte Sonea, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Mit einem Mal war die Stille unerträglich laut. Etwas Heißes rann über ihre Wangen und ihre Sicht verschwamm. Ihre Hände glitten über Akkarins Wangen. „Lass mich jetzt nicht allein. Bitte.“
Sie sandte ihren Geist erneut in seinen Körper, um nach seiner Präsenz zu suchen, doch da war nichts mehr. Es ging so leicht. Zu leicht. Grauen erfasste sie.
Es kam ihr vor, als wären nur wenige Augenblicken vergangen, seit sie in Lorlens Büro gewesen waren und über ihre Gefühle gesprochen hatten. Oder es zumindest versucht. Er konnte nicht tot sein.
Alles wird gut werden, hatte er ihr versprochen. Sie hatte ihm vertraut.
Und nichts war gutgegangen.
Das Gefühl wilder Freude zerriss ihn nun das Herz.
Sonea weigerte sich zu glauben, dass er tot sein sollte, sie wollte sich nicht damit abfinden. Das konnte nicht alles gewesen sein, nicht nach allem, wofür sie gelitten hatten. So konnte es nicht enden.
So darf es nicht enden!
Es musste doch etwas geben, das sie tun konnte!
Denk nach!, befahl sie sich und zwang sich, nicht zu verzweifeln. Ihre magischen Reserven prüfend stellte sie fest, dass noch ein kleiner Rest Magie übrig war. Sie wusste nicht, ob es ausreichen würde, doch solange sie am Leben war, verfügte ihr Körper über Energiereserven. Ja, so würde sie es machen. Sie musste ihn retten, was auch immer es sie kosten mochte.
Ich habe dir gesagt, ich werde dich nicht verlassen, hatte sie ihm versprochen, nachdem sie Parika am Südpass besiegt hatten. Wenn wir sterben, sterben wir gemeinsam.
Obwohl Akkarin ihre Worte belächelt hatte, hatte Sonea sie mit derselben Ernsthaftigkeit ausgesprochen, die sie nun verspürte. Das ließ ihr genau zwei Möglichkeiten: Entweder es gelang ihr, ihn zu retten, oder sie würde bei dem Versuch sterben. Aber dann würde sie sich wenigstens nicht für den Rest ihres Lebens vorwerfen müssen, nicht alles versucht zu haben. Denn damit würde sie niemals leben können.
Mit zitternden Fingern zeriss sie den Stoff seiner Robe. Dann zog sie behutsam Karikos Messer aus seiner Brust. Ihren Geist ausstreckend begann sie, die Verletzung zu untersuchen. Das Messer war zwischen zwei Rippen in die Lunge eingedrungen. Nur ein kleines Stück weiter rechts und es hätte sein Herz getroffen. Eine solche Verletzung war tödlich, aber nicht schwierig zu heilen, sofern die Heilung rechtzeitig erfolgte, wusste Sonea. Sie wusste jedoch auch, sie konnte die zerstörten Arterien und das zerfetzte Gewebe eines leblosen Körpers nicht wieder zusammenwachsen lassen.
Aber sie konnte das Blut, das in seine Lunge gelaufen war, entfernen und alles wieder an seinen vorgesehenen Platz bringen. Sie lächelte grimmig, als ein Plan in ihr zu reifen begann. Sie wusste nicht, ob ein Heiler jemals etwas Vergleichbares versucht hatte. Aber ihr Verstand sagte ihr, es musste möglich sein.
Einen tiefen Atemzug nehmend, begann Sonea mit ihrer Arbeit. Sorgfältig stärkte sie die zerstörten Fasern und Gefäße mit kleinen Barrieren aus Magie, die das Blut daran hindern sollten, zurück ins Gewebe zu fließen. Vorsichtig übte sie ein wenig Druck darauf aus. Zu ihrer Erleichterung hielt ihr Konstrukt.
Als sie fertig war, waren ihre Hände blutverschmiert. Wissend, dass dies Akkarins Blut war, spürte sie Übelkeit in sich aufsteigen.
Sonea schob das Gefühl beiseite und legte ihre Hand erneut auf Akkarins Brust. Sein Körper war noch warm, das musste bedeuten, dass es noch nicht zu spät war. Der Gedanke trieb ihr erneut die Tränen in die Augen und sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Wenn sie ein Herz zu Stillstand bringen konnte, dann konnte sie es auch wieder zum Schlagen bringen. Sie versuchte sich alles ins Gedächtnis zu rufen, was sie je über Heilkunst gelernt hatte. Doch man hatte ihr nicht beigebracht, was zu tun war, wenn der Körper des Patienten jeglicher Energie entleert war.
Vielleicht, weil es nichts gab, das man tun konnte.
Denk nicht einmal daran!, wies sie sich zurecht. Ärgerlich wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, dann schloss sie die Augen.
Sich auf den Rhythmus ihres eigenen viel zu schnell schlagenden Herzens konzentrierend, versuchte Sonea diesen auf das seine zu übertragen. Aber jedes Mal, wenn sie glaubte, es geschafft zu haben und das Blut durch Akkarins Adern rauschte, stand sein Herz wieder still, sobald sie aufhörte, es zu bewegen. Ein flüchtiger Blick auf ihre magischen Reserven sagte ihr, dass sie gefährlich nahe daran war, die Energiereserven ihres Körpergewebes anzutasten. Es muss funktionieren, redete sie sich ein und schob ihre Verzweiflung in einem Anflug von Trotz beiseite.
„Was auch immer du da versuchst, wird ihn nicht zurückbringen“, erklang eine vertraute Stimme von irgendwo.
Sonea hob den Kopf. Dorrien stand im Eingang der Universität. Als ihre Blicke sich begegneten, eilte er die Stufen hinab. Rothen und Lord Balkan folgten ihm.
„Warum nicht?“, verlangte sie zu wissen.
„Weil er sich vollständig erschöpft hat.“ Der junge Heiler ging neben ihr in die Hocke. „Der menschliche Körper braucht sowohl Energie als auch eine Präsenz, um zu leben. Wenn der Tod eintritt, verlässt die Präsenz den Körper. Keine heilende Magie kann dann noch aufgenommen werden.“
„Dann muss ich das eben verhindern“, sagte Sonea entschlossen.
Das Blau in Dorriens Augen funkelte hart und kalt. „Willst du dich umbringen?“
Sonea starrte ihn trotzig an. „Wenn es der einzige Weg ist, ihn zu retten? Ja.“
Dorriens Miene wurde ein wenig weicher. „Das ist es nicht wert, Sonea.“
„Doch“, gab sie zurück. „Er ist alles wert.“
Rothen fasste sie behutsam am Arm und versuchte sie von Akkarin wegzuziehen. Sie schlug seine Hand beiseite.
„Sonea, es ist vorbei“, sagte er. „Akkarin ist tot. Du musst das akzeptieren.“
Sonea starrte ihn an. Der plötzliche Zorn war überwältigend. Wie konnte er, ausgerechnet er, es wagen …?
„Nein!“ Etwas löste sich in ihr, und ihr ehemaliger Mentor wurde rückwärts durch die Luft geschleudert. „Das werde ich nicht akzeptieren!“
Rothen schlug hart auf dem Boden auf. Ein übelkeitserregendes Geräusch zerriss die Stille. Dorriens Augen weiteten sich vor Entsetzen.
„Vater!“ Sein Blick wanderte zögernd zurück zu Sonea, als sei er hin und hergerissen, wer seine Hilfe dringender benötigte.
„Ich kümmere mich um ihn!“, rief Balkan. „Bleibt Ihr bei Sonea.“
Verschwommen nahm Sonea wahr, wie das Oberhaupt der Krieger Rothen zur Hilfe eilte. „Das habe ich nicht gewollt“, flüsterte sie. „Es tut mir so leid.“ Sie verstand nicht, was da soeben geschehen war. Es war fast, als hätte ihre Magie für einen Augenblick die Kontrolle über sie erlangt. Dabei hatte sie nur verhindern wollen, dass man sie daran hinderte, Akkarin zu retten.
Als Balkan ihm aufhalf, stieß sie leise die Luft aus. Rothen hielt sich die Schulter, doch sein Stand war fest und sein Gesichtsausdruck eher besorgt denn schmerzerfüllt.
Dorrien wandte sich ihr zu und blickte sie ernst an. „Du musst Akkarin loslassen, Sonea“, sagte er ruhig. „Du kannst ihn nicht heilen. Es gibt nichts mehr, was du für ihn tun kannst.“
Das sah Sonea anders.
Wenn die Heilkunst hier versagte, dann blieb ihr noch immer die schwarze Magie. Aber sie musste schnell handeln. Die Zeit schien ihr durch die Finger zu rinnen und mit ihr schwanden ihre Chancen.
Verärgert sah sie zu Dorrien auf.
„Hilf mir lieber und gib mir deine Kraft!“, befahl sie. Die Schroffheit in ihrer Stimme ließ sie zusammenzucken.
Dorriens Augen weiteten sich. Sonea hielt seinem Blick jedoch mit aller Entschlossenheit stand. Schließlich stieß er einen resignierten Seufzer aus, den sie betont ignorierte. Dann ließ er sich neben ihr nieder und legte eine Hand auf ihre Schulter.
„Ich helfe dir“, sagte er. „Aber wenn es aussichtslos ist, höre ich auf. Ich setze nicht mein eigenes Leben aufs Spiel.“
Dann werde ich eben alleine weitermachen, dachte Sonea grimmig. Insgeheim wusste sie jedoch nicht, woher sie die Kraft dafür nehmen sollte, wenn auch Dorrien sich erschöpft hatte. Aber sie musste es versuchen. Akkarin hatte dieses Ende nicht verdient. Nicht nach allem, was er durchlitten hatte. All die Jahre hatte er nur existiert, um die Gilde zu beschützen, hatte sein Geheimnis niemandem anvertrauen können – nicht einmal sein bester Freund. Er hatte nie eine echte Chance gehabt, zu lieben. Seine erste Liebe hatte er verloren und sogar sie hätte ihn bis vor kurzem noch zurückgewiesen. Er hatte Besseres verdient als zu sterben, ohne wirklich gelebt zu haben. Sonea entschied, sie wollte sein Leben wieder lebenswert machen.
Und wenn es das Letzte war, was sie tat.
„Sie verliert die Kontrolle“, hörte sie Balkan sagen.
„Wir brauchen Hilfe“, sagte ihr ehemaliger Mentor. „Ich bezweifle, dass Dorrien allein viel ausrichten kann.“
„Ich rufe Lady Vinara.“
Zu Soneas Unmut hörte sie dann, wie der Krieger das Oberhaupt der Heiler rief.
– Vinara!
– Balkan?
Ein Bild der sich vor ihm abspielenden Szene blitzte in ihrem Geist auf. Sie selbst kniete auf dem Boden neben Akkarins leblosen Körper, ihre Hände blutverschmiert, Dorrien an ihrer Seite. Ihr eigener Gesichtsausdruck ließ sie erschaudern. Er sieht mich nur so, weil er mich fürchtet, fuhr es ihr durch den Kopf. Das bin nicht ich.
– Kommt her so schnell Ihr könnt. Und bringt ein paar Heiler mit. Sonea hat einen Zusammenbruch. Sie hat Lord Rothens Sohn überredet, ihr zu helfen Akkarin wiederzubeleben. Ich fürchte, sie verliert die Kontrolle.
– Ich bin unterwegs.
Unter anderen Umständen hätte Sonea die Augen verdreht. Jetzt verfluchte sie Balkan im Stillen für sein mangelndes Feingefühl. Sie fand, anstatt sie für unzurechnungsfähig zu erklären, sollte er ihr lieber helfen. Tat er es nicht, weil er ihr und Akkarin zürnte, weil sie es gewagt hatten zurückzukehren, oder er hatte seine Magie bereits erschöpft?
Ein Seufzen unterdrückend konzentrierte sie sich erneut. Sie war nicht unzurechnungsfähig, sie hatte einen Plan. Und nur ihr eigener Tod würde sie davon abhalten, ihn zu verfolgen.
Mit Dorriens Magie errichtete sie eine künstliche Barriere auf Akkarins Haut. Dann ließ sie die Kraft, die Dorrien ihr sandte, langsam in Akkarins Körper fließen. Zu ihrer Verzweiflung musste sie jedoch feststellen, dass sie immer wieder aus seinem Körper sickerte und sich unter der Barriere ansammelte, von wo aus Sonea sie erneut in seinen Körper zwang.
„Es funktioniert nicht“, stellte Dorrien fest. „Es ist, wie ich dir gesagt habe: Sein Körper kann die Magie nicht halten.“
„Aber es ist doch eine Barriere da!“, protestierte Sonea, nicht begreifend, warum es nicht funktionierte.
„Die sein Körper nicht annimmt. Sieh doch, Sonea: Sie ist da, aber nicht eins mit seinem Körper, weil seine Präsenz fehlt.“
„Vorhin sagtest du noch, es wäre umgekehrt“, warf sie ihm vor.
Dorrien seufzte. „Ohne natürliche Barriere kann die Präsenz eines Menschen nicht im Körper bleiben, aber die natürliche Barriere existiert nur, wenn eine Präsenz da ist. Das eine kann nicht ohne das andere existieren.“
„Dann erklär mir, wie ich seine Präsenz finden kann!“, verlangte sie.
„Das ist nicht möglich.“ Bedauernd schüttelte Dorrien den Kopf. Er löste seine Hand von ihrer Schulter. „Es tut mir leid, Sonea.“
Er wollte sich erheben, doch Sonea bekam seinen Arm zu fassen.
„Bleib“, sagte sie leise. „Du hast noch genug Magie, um mir zu helfen.“ Sie spürte, wie die Tränen zurückkehrten und der Schmerz sie zu überwältigen drohte. Aber sie war noch nicht am Ende. „Es gibt noch etwas, das ich versuchen muss.“
„Sonea, ich würde alles für dich tun“, sagte Dorrien leise. „Aber das hier ist wirklich zu viel verlangt.“
„Je länger wir darüber streiten, desto geringer werden seine Chancen“, entgegnete sie hart.
Dann durchfuhr sie ein schrecklicher Gedanke. Was, wenn er ihr nicht helfen wollte, weil er sie noch immer liebte? Weil er sie für sich wollte? Aber er wäre dumm zu glauben, er würde ihre Zuneigung gewinnen, indem er ihr seine Hilfe verweigerte. Allerdings würden sich ihre Gefühle nicht ändern, nur weil er ihr half, Akkarin zu retten. Er war nur ein Freund, sie hatte ihn nie geliebt.
Sonea blieb keine Zeit, um über die Grausamkeit ihrer Worte nachzudenken. Sie waren bereits heraus, bevor sie sich ihrer ganz bewusst geworden war.
„Wenn du mich jetzt im Stich lässt, werde ich dir das nie verzeihen.“
Dorrien betrachte sie mit einem Blick, der sie erschaudern ließ. Dann legte er wortlos seine Hand wieder auf ihre Schulter und kehrte an ihre Seite zurück.
„Egal, was passiert, du musst sein Herz weiter bewegen und die Barriere stärken“, erklärte sie darum bemüht, sich von seiner Reaktion nicht beirren zu lassen. Für Schuldgefühle würde sie noch genug Zeit haben, wenn sie hier fertig war. „Ich werde mich nicht darum kümmern können.“
Sie spürte, wie eine seltsame Ruhe sie überkam. Es war der einzige Weg, der ihr noch blieb, und sie hatte nichts mehr zu verlieren, wenn sie ihn betrat.
Hab Vertrauen, hatte Akkarin gesagt, bevor sie das Büro verlassen hatten, um sich den letzten drei Ichani zu stellen.
Die ganze Zeit sie gedacht, dass sie ihm vertrauen sollte, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich selbst vertrauen musste, wenn das hier gelingen sollte.
Und dann wusste Sonea mit endgültiger Klarheit, was sie tun musste.
Es war etwas, das nur sie tun konnte.
Sie holte tief Luft, legte die Hand auf die Wunde in Akkarins Brust und konzentrierte sich auf das Dahinter. Dann schloss sie die Augen und ließ los. Ihre Lungen schienen zu kollabieren und sie glaubte zu fallen. Es fühlte sich so viel anders an, wie wenn sie sich in ihrer eigenen Kraftquelle ausdehnte und ihren Geist ausstreckte, um die Kraft eines anderen zu nehmen.
Aber sie hatte ihrem Geist auch noch nie befohlen, ihren Körper zu verlassen.
Sonea spürte, wie sie in eine riesige Leere gesaugt wurde. Irgendwo in weiter Ferne spürte sie noch immer Dorriens Hand auf ihrer Schulter. Sie prägte sich dieses Gefühl gut ein, um wieder zurückzufinden. Sie wusste nicht, was mit ihr geschehen würde, sie wusste nur, sie musste unbedingt den Ort von Akkarins magischer Quelle finden, wenn sie ihn retten wollte. Irgendetwas ließ sie glauben, dass sie so auch seine Präsenz finden konnte. Und bis dahin musste sie ihm eben ihre eigene leihen.
Obwohl Akkarin ihr die Quelle seiner Kraft nie gezeigt hatte, hatte Sonea eine Ahnung davon erhalten, als sie für einen Augenblick wirklich eins gewesen waren. Auf diesem Felsen hinter dem Wasserfall hatten ihre Gedanken sich für einen kurzen Moment verbunden und sie hatte gefühlt, was er gefühlt hatte. Die Erinnerung schmerzte, doch Sonea zwang sich, sie noch einmal zu erleben. Hinter dem Rausch von Gefühlen, den sie dabei erlebt hatte, glaubte sie, einen Hinweis darauf erhalten zu haben, was seine Präsenz, seinen Geist oder was es auch immer war, ausmachte. Sie war sicher, sie hatte ihn am Ende besser gekannt als jeder andere. Wenn sie versagte, dann war er für immer verloren.
Ihren Schmerz zurückdrängend beschwor Sonea ihre Erinnerungen an jenen Tag herauf. An seine Lippen auf ihrer Haut, seinen Duft und an das Gefühl, als er ihn ihr gewesen war und ihre Gedanken sich miteinander verbunden hatten. Davon angetrieben beschwor sie weitere Erinnerungen herauf, an die Nacht in dem kleinen Tal in den Bergen Sachakas, an sein Lächeln, als sie in dieser Höhle erwacht war, an das Gefühl, als er das Stück Sackleinen aus ihren Haar gezogen hatte, und an seinen Blick, als sie gemeinsam zu ihrer Anhörung gegangen waren. Und an sein Geständnis.
Und dann verstand sie. Es war einfacher, als sie gedacht hatte. Doch als sie den großen, leeren Raum visualisierte, in dem seine Kraft hätte ruhen sollen, befiel sie Entsetzen. Wie sollte sie das wieder hinkriegen?
Nicht verzweifeln, ermahnte sie sich. Du hast es fast geschafft. Du darfst jetzt nicht aufgeben.
Sonea formte eine kleine Kugel aus ihrer eigenen Magie, umhüllte sie mit einer Barriere, und sandte sie in den leeren Raum, der sich wie ein riesiger Abgrund vor ihr auftat. Zu ihrer Erleichterung blieb die Kugel stabil und so gab sie nach und nach mehr Energie hinein. Als sie glaubte, die Magie würde ausreichen, trat sie in den Energieball und dehnte sich darin aus, als wäre es ihre eigene Magie. Jetzt hatte sie die Kontrolle über seinen Körper. Es war das seltsamste Gefühl. Es fühlte sich so viel bewusster an, als ihre Versuche, ihn zu heilen.
Allmählich zog Sonea Energie aus der Kugel und leitete sie in jede Faser von Akkarins Körper. Es war nicht kompliziert, doch es kostete sie eine Menge der Kraft, die Dorrien ihr kontinuierlich sandte. Aber es war, wie sie gehofft hatte, ihr Geist hatte die Kontrolle über seinen Körper erlangt.
Jetzt spürte sie, wie Dorrien Akkarins Herz zum Schlagen brachte. Es fühlte sich an, als wäre es ihr Eigenes. Sonea tat einen tiefen Atemzug. Das Gefühl war überwältigend, als hätte sie zu lange die Luft angehalten und eine berauschende Freude ergriff von ihr Besitz. Sie ahnte, sie hatte es fast geschafft. Sie tat noch einen Atemzug und noch einen weiteren, doch sie traute sich noch nicht, es seinen Körper von sich aus tun zu lassen.
Zuerst musste sie ihn zurückholen.
Hoffentlich habe ich mich nicht in dieser Sache getäuscht.
Ein weiteres Mal beschwor sie die Erinnerungen herauf. Dieses Mal waren sie jedoch weniger schmerzhaft. Da war jetzt eine größer werdende Hoffnung, alles könne sich am Ende doch noch zum Guten wenden.
Von neuem Mut erfüllt, projizierte sie ihre Gedanken auf ihren Blutring. Der Glasstein enthielt einen Abdruck von Akkarins Identität. Wenn seine Präsenz sich noch nicht aufgelöst hatte, würde er sie dadurch hören können.
Und es war so viel privater.
– Akkarin!, rief sie in die Leere hinein. Kannst du mich hören?
Keine Antwort.
– Akkarin, wo bist du?
Noch immer nichts.
Sonea verdrängte ihre Frustration und die erneut aufkeimende Furcht. Sie musste es weiter versuchen. Sie durfte nicht aufgeben. Nicht, jetzt wo sie schon so weit gekommen war.
– Bitte komm zurück. Ich brauche dich.
Nichts. Stimmte das denn überhaupt? Brauchte sie ihn wirklich?
Nein. Sie wusste, dass sie ihn nicht brauchte. Sie würde auch ohne ihn zurechtkommen. Und warum sollte ihn das überhaupt kümmern? Es ging nicht darum, ob sie ihn brauchte. Es war die ganze Zeit nicht darum gegangen. Sie würde ihn schon besser von sich überzeugen müssen. So, wie sie es die ganzen letzten Wochen über getan hatte. Der Gedanke daran ließ sie unwillkürlich lächeln.
Sag es mir, wenn das hier vorbei ist.
Und sie verstand. Es war vorbei, sie war am Ende. Es gab jetzt nur noch eines zu tun.
Während sie spürte, wie die Kraft, die Dorrien ihr sandte, schwand, rief sie ihn ein letztes Mal.
– Akkarin! Ich liebe dich!
Und wie sie das tat. Das Gefühl war so schmerzhaft und so süß zugleich, dass es sie zu zerreißen drohte. Ich schenke dir meine ganze Liebe. Für immer.
Sekunden vergingen.
Sekunden, die ihr wie Jahre erschienen.
Sekunden, in denen sie so angespannt auf etwas lauschte, von dem sie nicht wusste, was es war, dass sie darüber vergaß, für seine Atmung zu sorgen.
Dann traf sie eine unsichtbare Kraft von scheinbar überall, machte klar, dass sie nicht hierher gehörte, und trieb sie aus seinem Körper heraus. Ihre eigenen Lungen füllten sich so schnell mit Luft, dass es schmerzte und sie einen heiseren Schrei ausstieß.
Sonea schlug die Augen auf. Sie lag quer über Akkarins Oberkörper. Ihr Herz schlug viel zu schnell und unregelmäßig.
Sie spürte, wie irgendetwas sie emporhob. Sie wollte um sich schlagen, weil sie nicht wieder von ihm weggezogen werden wollte. Doch dann sank sie wieder herab. Und da wurde ihr bewusst, dass es nicht von oben kam. Da war niemand, der sie von Akkarin wegziehen wollte.
Es kam von unten.
Plötzlich erkannte sie, dass es nicht allein ihr Herz war, das sie schlagen spürte. Sie richtete sich ein wenig auf und betrachtete den Mann unter ihr fassungslos.
Akkarin tat einen tiefen Atemzug, seine Augen waren jedoch geschlossen. Sein Gesichtsausdruck war ungewohnt friedlich, so als würde er schlafen.
Bin das wirklich ich gewesen?
Sonea brach erneut in Tränen aus, doch dieses Mal waren es Tränen der Freude.
„Sie hat das Unmögliche geschafft“, hörte sie jemanden sagen. Die Stimme klang, als käme sie aus weiter Ferne.
Hände griffen nach ihr und zogen sie auf die Beine. Plötzlich waren überall Menschen. Dann war Rothen neben ihr und fasste sie sanft am Arm. Als Sonea den Kopf zu ihm wandte, entdeckte sie eine Schramme auf der Stirn, die noch blutete. Sein Gesichtsausdruck war gequält, doch er lächelte. Bei seinem Anblick verspürte sie ein plötzliches Schuldgefühl.
„Tut mir leid, dass ich Euch angegriffen habe“, sagte sie mit einem Anflug von Verlegenheit. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte.“
„Es ist in Ordnung, Sonea“, erwiderte er ihren Arm drückend.
„Danke“, flüsterte sie.
Lady Vinara tauchte von irgendwo auf und kniete sich neben Akkarin. „Bringt ihn sofort ins Heilerquartier“, befahl sie.
Zwei Männer in grünen Roben erschienen, hoben Akkarin mit Magie empor und schlugen den Weg zum Heilerquartier ein.
Lady Vinara wandte sich zu Sonea. „Du gehst dich jetzt ausschlafen“, sagte sie streng. „Später werden wir darüber reden, wie du das gemacht hast. Lord Dorrien, Ihr werdet Euch auch sofort hinlegen.“
Sonea warf einen Blick zu Rothens Sohn, der noch immer auf dem staubigen Boden kniete und ins Leere starrte. Benommen wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Robe die Tränen aus dem Gesicht und blinzelte in die tiefstehende Abendsonne.
„Wird Akkarin sich wieder erholen?“, fragte sie mit zitternder Stimme.
„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete Lady Vinara knapp. „Das kommt darauf an, wie lange er tot war.“
Sonea nickte. Sie wusste, dass der Körper vom Einsetzen des Todes an zu zerfallen begann. Sie konnte nur hoffen, dass sich die Schäden von alleine reparierten oder die Heiler dazu in der Lage waren. Sie brauchte nur zu den länger werdenden Schatten zu sehen, um zu wissen, dass zwischen dem Kampf und jetzt mehr als nur ein paar Minuten vergangen waren.
Ich habe getan, was ich konnte, sagte sie sich. Alles andere liegt jetzt nicht mehr in meinen Händen.
„Seine Kraftquelle“, sagte sie. „Ich habe sie geschützt, damit die Magie nicht wieder herausfließt. Und um seine Haut ist eine künstliche Barriere. Wie ein innerer Schild. Das zerfetzte Gewebe in seiner Brust wird von magischen Barrieren gehalten, weil ich es nicht heilen konnte.“
„Wir werden uns darum kümmern“, versprach das Oberhaupt der Heiler. „Geh dich jetzt ausruhen.“
„Ja, Mylady.“ Die Welt vor Soneas Augen begann zu verschwimmen. Sie spürte, wie jemand sie auffing, doch sie schien weiter zu fallen. Das Letzte was sie sah war Dorrien, der ihren Blick mit einer Mischung aus Enttäuschung und Verbitterung erwiderte.
Dann wurde die Welt dunkel.
Epilog
Das Erste, das Sonea wahrnahm, war, dass sie in einem weichen Bett lag. Der Raum, indem sie sich befand, kam ihr vage bekannt vor. Durch die Fenster sickerte ein dämmriges Licht, nach dem zu urteilen es entweder früher Morgen oder Abend war. Obwohl vollkommen desorientiert, fühlte sie sich seltsam erfrischt und glückselig, wie nach einem langen, traumlosen Schlaf. Benommen rieb sie sich die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Verschwommene Bilder von einer Schlacht, Tod und Zerstörung erschienen vor ihrem inneren Auge.
Und dann war alle Glückseligkeit wie weggewischt.
„Akkarin!“
Mit einem Mal saß sie senkrecht im Bett. Die plötzliche Furcht nahm ihr den Atem und ihre Augen begannen verräterisch zu brennen.
„Es ist alles in Ordnung. Akkarin lebt.“
Rothen saß in einem Sessel und lächelte sie müde an.
Erst jetzt erkannte Sonea, dass sie in ihrem alten Zimmer in seinem Apartment war. Seine Worte lösten einen jähen Anflug von Freude aus.
„Wo ist er?“, fragte sie aufgeregt und schlug die Decke zurück. „Ich muss ihn sehen!“
„Er ist noch im Heilerquartier“, antwortete Rothen. „Die Heiler lassen momentan niemanden zu ihm.“
Sonea erstarrte mitten in der Bewegung. Also war doch nicht alles in Ordnung. Die Angst kehrte zurück und lähmte ihre Fähigkeit sich zu bewegen oder zu denken.
„Warum?“, verlangte sie zu wissen. „Was ist mit ihm?“
Rothen seufzte und holte tief Luft. „Es macht wohl keinen Sinn, es dir zu verschweigen“, sagte er. „Nicht bei deinem Dickkopf.“
Sonea überging diese wahrscheinlich gutgemeinte Bemerkung. „Was ist mit ihm?“, wiederholte sie ungeduldig.
„Er ist noch nicht wieder aufgewacht. Einen solchen Fall hat es noch nie gegeben. Seine Kräfte kehren nur sehr langsam zurück. Die Heiler wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis er sich vollständig regeneriert hat. Die Magie, die du ihm gegeben hast, reichte gerade aus, um ihn am Leben zu erhalten.“
Soneas Herz setzte einen Schlag aus.
„Wie lange … ?“
„Drei Tage.“
Drei Tage? Entsetzt starrte Sonea ihren ehemaligen Mentor an. „So lange? Gibt es denn nichts, was die Heiler für ihn tun können?“ Und sie hatte die ganze Zeit geschlafen!
„Die Heiler kümmern sich um ihn, aber sie müssen auch die vielen Verletzten in der Stadt versorgen.“ Rothen schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Hab Geduld, Sonea. Er wird sich bestimmt wieder erholen.“
Sonea zog die Beine an die Brust und umschlang sie mit ihren Armen.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, sagte sie leise. Es fiel ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Was, wenn er nicht mehr aufwachte, weil sie irgendein wichtiges Detail nicht bedacht hatte, als sie ihn zurückgeholt hatte?
Rothen runzelte die Stirn. „Sonea, was ist in Sachaka passiert?“, fragte er sanft.
Sie betrachtete ihn mit schmalen Augen. So wie er die Frage gestellt hatte, ahnte sie, worauf er hinaus wollte. Trotzdem wollte sie sich nicht so leicht geschlagen geben.
„Es ist viel passiert“, antwortete sie betont lässig. „Was genau meint Ihr?“
„Ich meine, das mit dir und Akkarin. Was hat sich geändert?“
„Oh, das meint Ihr.“ Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Wangen plötzlich vor Hitze glühten.
Rothen betrachtete sie und lächelte. „Jetzt verstehe ich auch, was mit Dorrien los ist“, bemerkte er.
Sie sah auf.
„Was ist mit Dorrien?“
„Nach der Schlacht hat er einen ganzen Tag geschlafen. Als er aufwachte, ist er sofort ins Heilerquartier verschwunden. Seitdem heilt er Verletzte, als wäre er besessen. Ich bekomme ihn kaum zu Gesicht und ich bezweifle, dass er in den letzten beiden Tagen auch nur eine Stunde geschlafen hat.“ Er fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht und seufzte.
Er wirkt müde, bemerkte Sonea besorgt. Und älter. Sind seine Haare immer schon so grau gewesen? Und wie viel habe ich dazu beigetragen?
„Er weigert sich mit mir zu sprechen“, fuhr Rothen fort. „Einmal habe ich versucht, ihn zur Rede zu stellen. Er sagte, wenn er sich schon nicht selbst heilen kann, dann will er wenigstens anderen dabei helfen. Zuerst habe ich nicht verstanden, was er damit meinte. Aber jetzt verstehe ich es.“
Sonea runzelte die Stirn. „Das ist merkwürdig. Er wusste es, seit er uns am Südpass aufgelesen hat.“
Dann fiel ihr plötzlich wieder ein, wie Dorrien sie angesehen hatte, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren hatte und die Erkenntnis begann in ihr zu dämmern. Es waren nicht nur die Worte gewesen, die sie an ihn gerichtet hatte, um ihn zur Kooperation zu bewegen.
Dorrien hatte als einziger hören können, wie sie Akkarin gerufen hatte.
Die plötzlichen Schuldgefühle waren überwältigend. Sie hatte ihm das angetan. War das etwa der Preis für Akkarins Leben? Dass sie einem anderen Menschen so etwas antat?
„Er wird darüber hinwegkommen“, versuchte Rothen sie zu trösten. Dann lächelte er unvermittelt. „Übrigens wollte ich dir noch sagen, wie froh ich bin, dass du richtig gehandelt. Und ich verzeihe Akkarin.“
„Danke, aber das solltet Ihr im lieber selbst sagen“, erwiderte sie trocken.
Eine betretene Stille trat ein. Offenkundig war dieses Thema Rothen offenkundig. Sonea fragte sich, was er bei ihrer Anhörung zu Akkarin gesagt hatte. Sicher war es alles andere als nett gewesen. Nicht, dass Akkarin nett zu ihm gewesen wäre. Rothen hatte allen Grund gehabt, ihn zu hassen. Sie fand indes, für beide war es an der Zeit, Frieden zu schließen.
„Und Ihr hättet mir damals bei der Anhörung wirklich etwas mehr vertrauen können“, fügte sie ein wenig strenger hinzu.
„Wahrscheinlich“, gab Rothen zu bedenken und neigte leicht den Kopf. „Aber seine Geschichte war ja auch wirklich haarsträubend.“
„Was glaubt Ihr, warum er nie auch nur ein Wort gesagt hat?“ Sonea schnaubte leicht. „Ich hätte es ja selbst fast nicht geglaubt, hätte er mich nicht in den Gedanken des sachakanischen Spions lesen lassen.“
Es waren keine drei Monate seit jener Nacht vergangen und doch schien ein ganzes Leben dazwischen zu liegen. Und irgendwie stimmte das auch. Ihr Leben hatte sich auf eine Weise verändert, die sie sich nie hatte träumen lassen. Und sie hatte das vage Gefühl, dass das noch nicht das Ende war.
Es hatte gerade erst begonnen.
„Was wird nun mit uns geschehen?“, fragte sie.
„Das weiß ich nicht, Sonea.“ Rothens Miene drückte aufrichtiges Bedauern aus. „Die höheren Magier warten noch auf die Entscheidung des Königs, bevor sie sich beraten.“
Sonea nickte. Es hätte sie nicht gewundert, würde die Gilde sie zurück nach Sachaka schicken. Aber sie wusste, sie würde nur gehen, wenn Akkarin aufwachte. Ohne ihn würde sie nirgendwohin gehen.
„Hattest du jemals Zweifel an deiner Entscheidung, Akkarin ins Exil zu folgen?“, fragte Rothen unvermittelt.
Sonea schüttelte den Kopf.
„Keine Sekunde. Obwohl er es mir am Anfang wirklich schwergemacht hat, meine Entscheidung nicht zu bereuen.“ Und ich würde es wieder tun, fügte sie in Gedanken hinzu.
Rothen lachte. „Das kann ich mir wahrhaftig vorstellen!“, rief er. Dann wurde er wieder ernst. „Möchtest du mir denn nun erzählen, was da zwischen euch beiden läuft?“
Sie betrachtete ihn mit schmalen Augen. „Ihr gebt sonst keine Ruhe, nicht wahr?“ Als er lächelte, verdrehte sie leicht die Augen. „Meinetwegen“, gab sie nach. „Weil Ihr es seid. Doch tut mir einen Gefallen und behaltet es für Euch.“
Sonea wusste nicht, ob Akkarin wollte, dass sie ihre Beziehung der Gilde offenbarten. Sie hatten nie darüber gesprochen, was aus ihnen werden würde, wenn sie wieder zuhause waren. In den wenigen Tagen, die sie miteinander gehabt hatten, hatte es Wichtigeres gegeben, als eine Zukunft zu planen, von der sie nicht wussten, ob sie beide sie überhaupt erleben würden.
Und irgendwie war es respektlos, es zu tun, ohne sich mit ihm abzusprechen.
„Ich werde zu niemandem ein Wort sagen“, versprach Rothen feierlich.
„Habt Ihr denn Zeit?“
Rothen lächelte. „Alle Zeit der Welt. Aber vorher soll Tania dir noch etwas zu Essen bringen. Du bist doch sicher hungrig.“
Nickend lehnte Sonea sich zurück in die Kissen. Tatsächlich verspürte sie keinen Hunger, aber sie wollte sich die Diskussion ersparen. Mit einem Mal fühlte sie sich unendlich erleichtert. Und glücklich. Im Nachhinein erschienen ihr die letzten Wochen wie ein nicht enden wollender Alptraum. Aber in dieser ganzen Zeit hatte sie auch Schönes erfahren. Sie hatte erfahren, wie es war zu lieben und geliebt zu werden. Sie wusste nicht, wie es von jetzt an weitergehen würde, doch sie hoffte, dass ihre Beziehung bestehen blieb. Der Gedanke brachte etwas in ihrer Brust gefährlich nahe daran, zu bersten. Sie musste blinzeln, weil ihre Augen mit einem Mal wieder feucht wurden.
„Also schön, Rothen“, sagte sie. „Ihr habt es so gewollt. Denn das ist eine wirklich lange Geschichte.“
Dann begann sie zu erzählen.
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